5. Tel-Aviv

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Lina II

Der Sommer in Berlin ist sehr heiß dieses Jahr und mir stehen sechs Wochen bevor, bis Lira und Can zurückkommen. Sechs Wochen in denen ich mir klar darüber werden muss wie es in Zukunft weiter gehen soll. Ich dachte immer ich habe Visionen und ganz klare Pläne. Mode Studium, währenddessen Praktikum als Sprungbrett und dann mit Bene zusammen ziehen in eine schöne Altbauwohnung. Aber jetzt bin ich mir schon lange nicht mehr sicher, ob ich nicht noch andere Möglichkeiten in Betracht ziehen sollte. Eigentlich sind es nur vier Wochen, denn die letzten vierzehn Sommertage fliege ich in den Urlaub mit meinen Eltern und Bené. Ich schiebe die Gedanken beiseite und trete fester in die Pedale meines Fahrrads. Die Sonne brennt auf meiner Stirn und auf dem Asphalt. In der Luft liegt ein Geruch von heißem Teer, dem Gummi der Reifen und Lindenblüten. Auf dem Gehweg zu meiner rechten wirft die Sonne den Schatten der Linden und Platanen so leicht auf den Boden, dass die Blätter dort tanzen. Als ich in die Büchener Straße einbiege und am hohen Zaun des örtlichen Freibads entlang fahre, lausche ich dem ausgelassenen Lärm von Kindern und Jugendlichen gemischt mit schimpfenden Eltern, pfeifenden Bademeistern und platschendem Wasser. In der neunten war ich hier jeden Sommertag mit Lira. Unsere Eltern gaben uns Geld und wir drängelten uns heimlich mit den Jungs beim Kiosk vor um Eis und Currywurst zu kaufen. Wobei Liras Geld immer nur für Eis reichte und ich dann die Currywurst bezahlte. Auch in der zehnten gingen wir noch dorthin und lernten neue Leute kennen. Plötzlich waren wir nicht mehr so scharf darauf im Wasser zu planschen und überließen den Jungs das Turmspringen. Ganz erwachsen lagen wir dann auf unseren Badehandtüchern, Liras Kopf in meinem Schoß und rauchten unsere ersten Kippen und manchmal auch Joints. Irgendwann verbot Symba Lira in das Freibad zu gehen, weil ihm jemand gesteckt hatte, mit was für Typen wir uns angefreundet hatten und dass wir kifften. Ich war genervt, mir verbot ja nie irgendjemand was. Meine Eltern waren zu beschäftigt, um sich Gedanken um mein Umfeld zu machen, also konnte ich das nicht verstehen. Doch Lira zwinkerte mir nur zu, denn sie hatte bereits etwas neues spannendes gefunden, was wir in unserer Freizeit machen konnten: „Raves". Also ließen wir uns von irgendeinem Hänger an unserer Schule den Ort eines illegalen Raves zeigen und waren erstmal verwundert von der Atmosphäre als wir dort zu zweit auftauchten. Charlotte hing mit einer coolen Mädelsclique rum und so hängten wir uns an die. Gegen zwölf Uhr waren die allerdings alle komplett zugedröhnt und da uns die Macht solcher Drogen damals sehr unheimlich war, exten wir hinter einem alten Container zu zweit eine Flasche Vodka und gingen danach total ab mit den ganzen anderen, die alle ungefähr fünf Jahre älter als wir waren. In dieser Nacht waren wir die letzten die das Gelände verließen und wir liefen lachend davon als ein verwirrt blickender zwanzigjähriger seinen Freund fragte, wie alt die zwei kleinen da eigentlich seien."Nächstes Mal wieder?" fragte ich Lira als wir völlig aus der Puste vor meinem Haus ankamen. „Ich weiß ja nicht", lachte sie.

„Pass doch auf Mädchen!", brüllt plötzlich ein junger Mann direkt vor mir auf dem Fahrrad. Er trägt orange Kleidung von einem Lieferdienst und einen Überdimensionalen Rucksack. Ich habe ihn überhaupt nicht kommen sehen so in Gedanken war ich. Doch bremsen ist jetzt zu spät und ich weiche ihm schwankend aus. „Ich hab sie halt nicht gesehen, meine Güte", beschwere ich mich im Vorbeifahren. „Dumme Zicke", antwortet er mehr zu sich selbst. Wütend drehe ich meinen Kopf um: „Immerhin arbeite ich nicht bei Lieferando", gebe ich zurück noch bevor mein Fahrrad aufgrund des vielen Verkehrs aus seinem Sichtfeld verschwindet. Manoman, das war schon fast gemein denke ich aber muss trotzdem kichern.

Nachdem ich von der Hauptstraße runter bin, schließe ich mein Fahrrad an einer Laterne an und hoffe, dass niemand es klauen wird. Gut gelaunt gehe ich die drei Stufen zwischen dem großen Schaufenster hoch und betrete das Atelier von Annkatrin Lavenduso, die Modeschöpferin bei der ich seit einem halben Jahr mein Praktikum mache. Madame Lavenduso, ja sie will, dass wir sie Madame und nicht Frau nennen, steht mit verschränkten Armen vor einer Schneiderbüste und betrachtet spitzäugig den angebrachten Stoff. Sie trägt schicke Stilettos und eine weite helle leinen Hose. Dazu die passende langärmelige Strickjacke mit Gürtel um die Hüfte und dicke funkelnde Ringe um ihre dünnen Finger. Manchmal habe ich Angst, dass jemand in den Laden stürmt und sie überfällt. Lohnen würde es sich auf jeden Fall. Wenn sie mir das nächste Mal auf den Keks geht, gebe ich Jojo und Mert einen heißen Tipp, scherze ich im Kopf doch werde unterbrochen von Madame Lavenduso. „Lina Wilhelm, was halten sie von diesem Stück hier?", fragt sie mich und mein Blick hüpft von den geschmückten Händen schnell zurück zu ihrem honigblonden Bob und dann zur Schneiderbüste. Sie ist mit einem Weinfarbenden kurzem Kleid bedeckt, dessen dünner feiner Stoff vorne zusammengerafft ist und dann elegant in einer Bahn auf den Boden gleitet. „Wow, das sieht toll aus", staune ich frage mich allerdings wie man es Tragen soll, ohne vorne ständig drauf zu treten und sich das Kinn aufzuschlagen. Die fünfzigjährige nickt, ohne dabei ihren prüfenden Blick abzulegen. „Das ist eine Kreation von deinem neuen Kollegen", sagt sie dann knapp und ruft: „Jamil kommen sie mal bitte?" in den hinteren Teil des Ateliers. Verblüfft ziehe ich die Augenbrauen hoch. Ich kann mich nicht ganz entscheiden, ob ich mich freuen soll einen Verbündeten zu haben oder genervt sein soll, dass ich nun nicht mehr meine Ruhe habe und vielleicht sogar noch wetteifern muss. Ich beschließe das anhand des Typen festzulegen und staune nicht schlecht als mein neuer Kollege in den Türrahmen tritt. Der Typ ist ca. 1,85 groß hat marklose Karamell farbende Haut wie Bené und kurz rasierte dunkelbraun bis schwarze Haare. Er trägt ein enges Langarmshirt mit einem verschlungenen Muster aus unterschiedlichsten Blautönen, unter dem eine trainierte Brust zu erahnen ist. Eine lange weite dunkle Hose mit stylischem Gürtel und schicke Schuhe. Kein Wunder das er dieses schöne lila Kleid designed hat, denke ich. „Hallo, ich bin Jamil", kommt er lächelnd auf mich zu und zeigt seine perfekten Zähne. „Lina", stelle ich mich vor und wir geben uns die Hand. „So, jetzt kennen Sie sich, ab an die Arbeit." Madame Lavenduso klatscht freudig in die Hände und lässt sich auf den Designer Stuhl hinter ihrem Schreibtisch fallen um den Tag mit dem Beantworten von Emails und Event Planungen zu beginnen. Jamil und ich gehen in das Stofflager, um neue Stoffbahnen einzusortieren.

Heut fahr'n wir durch Hood und woll'n Tausender verdienenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt