Er weinte, als er den Brief las. Er hielt ihn mit seiner linken Hand und zum ersten Mal seit Jahren ließ er den Tränenfluss still gewähren.
Er hätte es niemals zugegeben, aber es war angenehm gewesen, mit jemandem zu reden.
Das Gefühl seiner arbeitenden Stimmbändern hatte er vermisst, und nun würde er es wieder vermissen. Davor hatte er Angst gehabt. Wie ein blindes Kind, das plötzlich erfährt, wie schön die Dinge sind, und dem wieder das Licht genommen wird.
Sie hatte ihm eine Grundlage geliefert, aber er konnte es nicht schaffen. Oder vielleicht wollte er es auch gar nicht. Vielleicht versank er lieber auf der Straße in Selbstmitleid und wartete, bis Gott sich wieder erbarmte, einen Engel zu ihm zu schicken. Alles hatte sie aufgeschrieben, alle seine Worte. Er strich über die Worte aus dunkler Tinte und sah sie neben sich sitzen, wie sie in das Buch kritzelte.
„Was tust du?", hätte er gefragt.
„Ich schreibe dich auf", hätte sie gesagt. Und endlich verstand er.
Er verstand den Schwung im Bogen ihres g's, den kleinen Kringel ihrer f's, dankte ihr still und begann, mit seiner linken Hand seine Geschichte zu Papier zu bringen.
Es waren schon Andeutungen von klitzekleiner Zuneigung in seiner Betrachtung ihres Briefes, und ihre liebevolle Handschrift zeugte von all Jenem, was hätte sein können, sein sollen.
Offensichtlich aber vielleicht auch nicht.
Es traf ihn. Wirklich. Vermutlich wirklicher, als es sie getroffen hätte, sie hatte ihn nie auf diese Weise gesehen. Er allerdings, er hatte sie geliebt. Ja, tatsächlich war es Liebe, das er empfand, und erst jetzt nahm er sie so deutlich war wie zu keinem Zeitpunkt davor; jetzt, wo er sie nicht mehr haben konnte.
Aber in Wahrheit hätte er sie nie haben können.Er konnte ihren warmen Atem über seine Lippen streifen spüren, in Erinnerung, und es tat weh. Himmel, es tat so weh, mehr weh als es je getan hatte, als sie so nah, doch so unberührbar neben ihm gesessen hatte.
Das zwischen ihnen wäre nie etwas geworden. Sie wollte ihn einfach nicht. Und jetzt hatte sie nichts mehr. nichts.
Und Lukas hatte sie nicht mehr, was schlimmer war als jedes Leid, das er gespürt hatte.
Lisa verstand die Welt nicht mehr.
Sie war tot.
War sie wirklich tot?
Dr. Kirmil hatte auch einen Namen. Jonathan hieß er. Jonathan Kirmil.
Doch die kleine Charlotte Pepper hatte ihn immer Dr. Kermit genannt, Kermit der Frosch.
Er warf sich selbst vor, es nicht vorher gemerkt zu haben. Die Röntgenbilder zeigten deutlich, dass der Wurm sich mindestens schon zehn Jahre ausgebildet hatte. Hätte er ihr es sagen müssen? Hätte sie wissen müssen, dass schon vor mehr als zehn Jahren ein Missgeschick passiert war?
Hätte es einen Unterschied gemacht?
Er hatte es gewollt. Wirklich gewollt.
Aber kaum hatte er den Mund aufgemacht, hatte er wieder die kleine, süße Charlotte auf dem Stuhl vor sich sitzend, mit den Füßen baumelnd und an Lollipops und Teddybären denken.
Wie konnte er sich selbst Arzt nennen, wenn er nicht einmal soetwas aushalten konnte?
Dr. Kirmil. Das war falsch. Das war ein gelogener Wortlaut. Ein Wortlaut, der die Zunge vergiftete. Jonathan. So hieß er. Ein Doktor war er nicht.
Vielleicht war Leo ein bisschen verbittert. Aber er versuchte ihretwillen, es nicht zu sein.
Kein Abschiedsbrief. Nur dieses Es gibt so viel zu entdecken, macht die Augen auf!, von dem ihre Eltern, seine Eltern, behaupteten, es wäre nicht für Andere als sie selbst bestimmt. Aber er wusste, dass das nicht wahr war, genauso wie er wusste, dass sie es auch wussten.
Genauso wie er wusste, dass es eben nicht nur dieses Es gibt so viel zu entdecken, macht die Augen auf! war.
In der Nacht hatte sie bei ihr geschlafen, neben ihr, auf einem Stuhl aus der Küche, und ihr von Zeit zu Zeit über die Haare gestrichen.
Sie hatte ihr das Leben geschenkt. Aber ein so Kurzes.
Hätte sie nicht gütiger sein können?
Ihre erstes Wort war „Mapa". Es klang süß und zierlich und zerbrechlich, aber sicher. Sowasvon sicher.
Lennart Pepper wusste, dass sie diese Sicherheit bis zum Ende beibehalten hatte.
***
So wurde Charlotte Pepper zu einem anderen Teil des Universums, vielleicht Flimmerstaub, vielleicht Luft, vielleicht eine Reinkarnation in Form eines Vogels. Oder etwas Anderes. Die Einzige, die es weiß, ist sie selbst.
Sie erlisch wie ihre Nachttischlampe:
Auf einen Schlag hörte sie auf, die Welt um sich zu erhellen, hinterließ bloß noch ein trotziges Glimmen, das schließlich mit der Zeit verschwand und die Welt in der Dunkelheit hinterließ, in der Neues entsteht.
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Bis der Mond die Sonne küsst
Teen Fiction„Wie lange hab ich noch?“, fragte ich, mein Gehirn stellte auf stumm während mein Herz einen Schnelllauf lief. Seine von der Zeit geprägten Augen blickten auf mich herunter, alt, müde. „Noch ungefähr zwei Tage“, sagte er. Ich war endlich. Das Ausmaß...