4.

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Die Stuhlkante war hart, doch der Schmerz war mir genehm.

Denn direkt nach meinen Worten brach die Erkenntnis über mich hinein. Ich würde sterben. Ich würde in zwei Tagen wahrhaftig mein Leben, meine Freunde, meine Familie, alles hinter mir lassen. Ich wollte das nicht. Ich war noch nicht bereit. Ich wollte Kinder haben, verdammt! Enkelkinder. Ich wollte eine Hochzeit, viele Ballons, ich wollte die Taufe meines Kindes erleben, ich wollte nicht sterben. Ich sah all die Dinge vor mir, die ich nie erleben würde: Mich, Mitte Siebziger, mit ein paar Zähnen weniger, kaputten, alten Knochen und einem Rolator, während meine Enkelkinder um mich umherspringen und meinen Märchenerzählungen lauschen. Mich, Studentin, in meiner eigenen Wohnung, mit meinem Freund, der mir einen Kuss auf die Wange drückt. Mich, Bestsellerautorin. Mich, wo ich nie sein würde. Der Tod schien mit jeder Sekunde laut und mit rasender Geschwindigkeit auf mich zuzurollen, die Sekunden rannen mir durch die Finger... Meine Finger. Ich würde nie einen Ring an ihnen tragen. Sie würden nie aus Altersschwäche zittern, sondern nur noch aus Panik und Angst, wie genau jetzt in diesem Moment.

Mir war kaum bewusst, dass da jemand vor mir saß und mich ansah. Mir war kaum die Umgebung bewusst, obwohl ich an ihr festhalten musste, um nicht vor Ablauf meiner Tage aus dem Raum zu schweben.

So viele Dinge rannen mir durch den Kopf, so viele Dinge, die ich hätte tun sollen... Ich hätte nicht vor dem Bettler wegrennen sollen. Ich hätte mich nicht von Leo stoppen lassen sollen. Ich hätte nicht die Tage in meinem Bett verbringen sollen. Ich hätte netter und freundlicher und dankbarer sein sollen. Ich hätte aufregender leben sollen. Ich hätte, verdammt noch mal, ich hätte mehr aus meinem Leben machen sollen! Bald war es vorbei, und wenn der Rückblick in Farbe war, dann sah ich nur grau.

Man denkt, man hat ja noch Zeit. Klar denkt man das.

Ich streiche morgen meine Wände blau.

Ich ziehe morgen um.

Ich gestehe morgen meinem Geliebten meine Gefühle.

Ich sage morgen die Wahrheit.

Ich höre morgen auf zu rauchen.

Ich fahre morgen Fahrrad. Heute bleibe ich in meinem Bett.

Verdammt! Was, wenn es kein morgen gibt?! Was macht ihr alle dann? Was, wenn ihr nicht so viel Glück habt wie ich? Was, wenn euch keine zwei Tage mehr geschenkt werden? Selbst wenn am Ende nichts mehr übrig ist. Was bringt es euch, am Ende in eurem grauen Sessel vor eurer grauen Glaswand in eurer grauen Villa zu sitzen und an teurem Champagner zu ersticken? Gar nichts. Es bringt gar nichts.

Die Trauer schien mich zu ersticken und ich versuchte mühsam, sie abzuschütteln, denn auch die Trauer brachte mich nicht weiter. Brachte mir nicht mein Leben zurück. Es war nicht einfach, die Trauer einfach abzuschütteln, es war gar unmöglich, doch ich musste sie verdampfen lassen.

Plötzlich hatte ich den Drang, rauszurennen und all das zu tun, was Leben hieß, während ich mich gleichzeitig bloß in meinem Bett verkriechen und nie wieder hervorkommen wollte.

Ich blickte auf, um Dr. Kirmil zu signalisieren, dass er etwas sagen sollte.

„Soll ich deine Mutter anrufen?"

Noch ein Schock setzte meinen Herzschlag einen Moment außer Gefecht. Sie würden mich alle anders behandeln. Wie jemanden, der bald stirbt. Wie man jemanden wie mich behandelt. Wie ich jemanden wie mich behandeln würde. Das kam mir auf einmal so absurd vor. Und es machte mir Angst.

„Nein! Bitte! Ich flehe Sie an, sagen Sie es niemandem! Ich möchte nicht so behandelt werden!"

Traurig blinzelte er. „Charlotte, du bist noch nicht volljährig, deine Eltern müssen es wissen..."

Bis der Mond die Sonne küsstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt