6.

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 Es war schon auf eine Art und Weise merkwürdig, Leute dabei zu beobachten, wie sie durch ihren grauen Alltag stolperten und es nicht einmal bemerkten. Die meisten jedenfalls bemerkten es nicht, oder waren einfach Profis darin, ihre wahren Gefühle zu verstecken. Bei manchen allerdings konnte ich in ihren Gesichtern erkennen, dass sie all das leid waren. Leid waren, täglich den gleichen Bus zum gleichen Tagesablauf zu nehmen. Täglich kümmerlich und hart für ein bisschen Lebensverhältnis schufteten. Irgendwie tat es weh, ihnen nicht helfen zu können. Aber ich konnte mir ja nicht einmal selbst helfen.

Eine halbe Stunde war es her, seit ich den Typen mit der Narbe sitzen gelassen hatte, und seitdem war ich ziellos in der Stadt herumgeirrt, mit dem Gedanken, die Möglichkeit würde mir ins Gesicht springen. Falsch gedacht. Alles, was seit der warmen Tasse Kakao passiert war, war, dass die Straßen sich ein wenig gefüllt hatten, die Läden ein bisschen abendliche Kundschaft hatten und die Temperatur um einige Grade gefallen war. Nichts lebendiges, buntes, aufregendes.

Zum fünften – oder war es bereits das sechste? - Mal lief ich an der gleichen Bank vorbei und erst jetzt fiel mir auf, dass seit dieser halben Stunde genau die gleiche Person darauf saß und in die Menge starrte, mit einem nicht gerade die Fröhlichkeit in Person auszeichnendem Gesichtsausdruck. Ich entschied mich, mich dazuzusetzen.

„Hi", sagte ich etwas schüchtern.

Das Mädchen neben mir beäugte mich. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, ihr Gesicht war blass und in dem kurzem Kleid schien ihr laut der Gänsehaut an ihren Armen ziemlich kalt zu sein.

„Hi", erwiderte sie trocken. Ich schätzte sie alles in allem auf ungefähr achtzehn bis neunzehn, nicht viel älter als ich, trotzdem würde ich nie so alt werden wie sie.

Ich brauchte eine Weile, zu antworten, weil ich wieder in meinen Gedanken versank. Ich wusste, ich würde nicht schlafen können. Es gab eine Menge Dinge, die ich nie sein würde, eine zu große Menge, um nicht die ganze Nacht darüber nachzudenken und den Schlaf beiseite zu schieben.

Bis jetzt hatte ich noch nichts Großes geschaffen, außer einen armen Jungen dazu zu bringen, mit mir einen Kakao zu trinken. Das musste sich ändern.

„Du..ähm... du sitzt hier schon eine Weile", schaffte ich es zu sagen, bevor meine Schüchternheit mich in die Flucht schlagen konnte.

„Das kann schon sein." Ich bemerkte, dass sie ziemlich verweint aussah, was sie nur noch verlorener wirken ließ.

„Kann... kann ich dir irgendwie helfen?"

Die Antwort kam direkt, wie aus der Pistole geschossen: „Nein."

„Oh. Okay." Meine besonders intellektuelle Aussage handelte mir einen seltsamen Seitenblick ein.

Komm schon, Charlotte, ist das hier alles, was du kannst?

„Eigentlich... nein. Nicht okay. Ich werde dich nicht fragen, ob du es mir erzählen willst, weil ich die Antwort kenne. Ich weiß, dass ich auf dich wie ein merkwürdiges, dahergelaufenes Mädchen wirke, was ich ja auch bin, aber das heißt nicht, dass du mir das nicht erzählen kannst. Nein, eigentlich heißt es sogar das genaue Gegenteil. Was hast du schon zu verlieren, wenn du einer völlig Fremden von deinen Sorgen erzählst? Du könntest es wenigstens versuchen."

„Ich würde ja weggehen", murmelte sie, „aber ich saß hier zuerst. Und ich mag diese Bank, weißt du."

Ich musste schmunzeln. Ich würde sie noch zum Reden bringen. Sie wollte nicht gehen. Sie mochte diese Bank. Aber ich wusste, dass sie in Wahrheit vielmehr den Gedanken an die Möglichkeit mochte, jemandem von ihren Sorgen zu erzählen. Wie schön dieser Gedanke sein musste... Denn was immer es war, ich rechnete nicht damit, dass sie bald sterben würde. Und ich konnte niemandem davon erzählen. Niemandem. Nicht einmal Leo wusste es. Vielmehr, er erst recht nicht.

Bis der Mond die Sonne küsstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt