Kapitel 2

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Als ich aufwachte war mir eiskalt. Wie immer bildete mein Atem Leine wölkchen um mich herum und ich erhob mich, um meine steifgefrorenen Glieder zu erwärmen. Ich lief ein paar Runden um unser Lager herum, Lucia schlief noch. Nachdem ich mich ein wenig aaufgewärmt hatte, spürte ich meinen starken Hunger wieder. Ich hatte jetzt seid zwei Tagen nichts mehr gegessen und spürte, wie meine Kräfte schwanden. Ich sank zu Boden, fiel hart auf den mit Raureif überzogenen Untergrund. Vor meinen Augen drehte sich alles, mir war schwindelig. Ich schloss die Augen. Nach einiger Zeit ging es wieder, doch ich fühlte mich bedeutend schwächer als vor dem Schwächeanfall. Er beunruhigte mich zutiefst, das durfte nicht nochmal passieren. Im schlimmsten Fall könnte es mich das Leben kosten. Wir brauchen dringend Nahrung, wir mussten in den Wald. Ich rüttelte Lucia sanft wach. “Lucia, wach auf!“ Sie stöhnte, krümmte sich zusammen und presste eine Hand auf ihren Bauch. “Oh, Zoe, ich habe so Hunger. Ich halte es nicht mehr aus.“ Vorsichtig beugte ich mich über sie und streichelte sie. “Hier trink etwas, vielleicht hilft das.“ Ich reichte ihr die Flasche und hastig trank sie mehrere große Schlucke. “Besser“, sagte sie deutlich ruhiger und stand auf. Wir packten uunsere Sachen zusammen und liefen auf den Wald zu. Die Bäume kamen immer näher, sie vermittelten mir gleichzeitig ein Gefühl von Geborgenheit und Gefahr. Ich begann eine alte Melodie zu summen, die meine Mutter mir beigebracht hatte. Lucia fiel mit ihrer hellen, hohen Stimme ein. So sangen wir bis wir an den Wald kamen. Wir traten zwischen die Bäume und sahen uns suchend nach irgendetwas essbarem um. Da entdeckte Lucia unter einen Baum ein paar Nüsse, sie bückte sich, hob sie auf und steckte sie in den Rucksack. Wir liefen weiter, etwas entfernt rauschte ein Bach, auf den wir zusteuerten. Wir hatten bisher nur  die Pilze gefunden und ein paar Wurzeln, die ich aus dem gefrorenen Boden ausgegraben hatte. Die Temperatur war seit gestern noch gesunken, man merkte, dass der Winter immer näher rückte. Winter, das bedeutete, dass der Boden immer gefroren war, unsere Welt würde komplett im Schnee versinken und ich wusste nicht, ob wir diesen Winter überleben würden. Den letzten Winter hatten wir mit Mühe und Not irgendwie überstanden. Schon der letzte Winter war besonders hart gewesen, aber damals hatten wir wenigstens ein paar Vorräte gehabt. Dieses Jahr hatten wir nichts und die Nahrungsbeschaffung wurde jeden Tag schwieriger, so wie es immer kälter wurde. Ich lauschte, in diesen kalten Zeiten waren die Tiere teilweise auch tagsüber unterwegs, um etwas essbares zu finden. Da wir fast nichts fanden, beschloss ich auch Gräser und Blätter mitzunehmen. Ich zeigte Lucia, was sie pflücken sollte und gemeinsam füllten wir den Rucksack. Dann liefen wir weiter, Richtung Bach. “Lucia, was hälst du davon, wenn wir weiter in den Süden wandern? Ich glaube nicht, dass wir hier den Winter überleben würden.“ Sie nickte. “Ja, gerne, ist es dort wärmer?“ “Ein bisschen vielleicht. Wir sollten versuchen, in eine Gegend zu kommen, in der kein Schnee liegt, auch wenn der weg sehr weit ist.“ “Ja, ich halte diese Kälte hier nicht mehr aus, Zoe. Gibt es dort essen?“ “Ach, Lucia, ich weiß es nicht. Aber ich denke, wir werden nicht die einzigen sein, die in den Süden wollen.“ 

Wir erreichten den Bach, oder sollte man eher von einem kleinen Fluss sprechen? Er war wohl etwa hüfttief und hatte eine ordentliche Strömung. Ich wusste, dass es einer der wenigen unverseuchten Bäche war und dass wir gefahrlos daraus trinken konnten. Lucia stürzte auf ihn zu, beugte sich tief über die Wasseroberfläche und begann begierig zu trinken. Ich wollte ihr zurufen: “Pass auf! Fall nicht hinein!“ Doch da war es schon passiert. Lucia stürzte kopfüber hinein. Erschrocken rannte ich zum Fluss: “Lucia!“, schrie ich panisch. Ich mochte gar nicht daran denken, was passieren könnte. Wenn sie nun weggerissen würde und starb? Das durfte nicht passieren! Prustend kam sie ein Stück weiter wieder an die Wasseroberfläche. Die Strömung riss sie unbarmherzig mit sich und obwohl sie stehen konnte, schaffte sie es nicht sich zu halten. Immer wieder wurde sie untergetaucht, ich sah ihr vor ängstliches Gesicht, dann hörte ich einen Schrei durch den stillen Wald hallen. Ich erwachte aus meiner Schockstarre und rannte so schnell ich konnte neben ihr her. Ich sah mich nach einem ast um, den ich ihr zuwerfen könnte. Panisch sah ich zu Lucia, lange würde sie sich nicht mehr über Wasser halten können, immer seltener tauchte sie auf und ich sah Todesangst in ihrem Blick. Da erblickte ich endlich ein Stück entfernt einen etwas dickeren Ast. Ich packte ihn, suchte nach einer geeigneten Stelle, um sie zu retten. Ich rannte weiter neben dem Fluss her, wie lange würde ich das noch aushalten? Aber ich durfte sie nicht verlieren. Doch plötzlich machte der Fluss eine scharfe Biegung. Lucia wurde hart gegen das Ufer in der Biegung geworfen. Ich legte den Ast von einem Ufer zum anderen über den Fluss. Lucia wurde dagegengespült und klammerte sich mit letzter Kraft an den Ast. Ich begann zu ziehen, doch da entglitt mir der Ast. Die unbarmherzige Kraft des Wassers riss Lucia wieder mit sich. Sie schrie mir etwas zu, doch es wurde vom tosenden Wasser, das sie mit seiner eisigen Kraft wieder untergetauchte, verschluckt. Panisch rannte ich weiter, ich sammelte meine letzten Kräfte, um mit der Strömung, die mir meine Schwester raubte mitzuhalten. Mein Atem ging heftig keuchend, doch ich musste weiter. Irgendwann ging es nicht mehr, vor meinen Augen verschwamm der Wald und ich torkelte durch die Gegend bis ich entkräftet zu Boden sank. In der Ferne sah ich, wie meine Schwester aus meinen Blickfeld verschwand. Ich hatte sie verloren. Tränen rannen über mein Gesicht. Meine Schwester würde sterben. Das einzige was ich liebte, hatte ich verloren. Ich schluchzte auf. Was hatte das Leben jetzt noch für einen Sinn? Sollten die Wölfe mich doch finden, so würde ich ihnen wenigstens helfen, zu leben. Hieß ich deshalb Zoe, damit ich Tieren mein Leben schenken konnte? Da erinnerte ich mich daran, was meine Mutter vor ihrem Tod gesagt hatte. Ich durfte nicht aufgeben, wenn es noch nicht zu spät war. Ich musste den Körper meiner Schwester finden, sie bestatten und dann alleine weiterwandern. Mühsam erhob ich mich und lief Flussabwärts, immer nach dem Körper meiner Schwester Ausschau haltend.

Nach einiger Zeit, ich war lange gelaufen, sah ich plötzlich ihr blonds Haar. Sie war in den Ästen eines über den Fluss gestürtzten Baumes hängen geblieben. Vorsichtig kroch ich über den Stamm auf sie zu, ich durfte nicht ins Wasser fallen. Ich befreite sie aus dem Gestrüpp und zog sie vorsichtig an Land. Sie war eiskalt, so wie das Wasser. Als ich sie auf den feuchten Boden des Waldes legte, fing ich wieder an zu weinen. Meine Tränen fielen in ihr erstarrten Gesicht und ich umarmte sie. Doch es fühlte sich nicht richtig an, ihr Körper war so kalt, so leblos. Ich begann ein Loch zu graben, es war zwar schwer in den gefrorenen Boden zu graben, doch ich könnte den Gedanken, dass sie sonst von Tieren zerrissen würde, nicht ertragen. Also grub ich immer weiter.

Nach einiger Zeit hörte ich plötzlich neben mir ein rasselndes Geräusch. Ich schaute neben mich, war da ein Tier? Ich hörte es wieder, es kam von Lucia, sie hustete rasselnd. Wieder und wieder drang dieses Geräusch aus ihrer Brust, bis sich dann plötzlich ein Schwall Wasser aus ihrem Mund ergoss. Benommen richtete sie sich auf, fragte mit dünner Stimme: “Zoe, was ist passiert?“ Ich konnte es gar nicht fassen, sie lebte! Sie lebte tatsächlich, hatte diesen Sturz in das eiskalte Wasser überlebt! Ich rief freudig: “Lucia! Oh, ich bin so froh, ach Lucia!“ Ich umarmte sie, das woran ich nicht mehr geglaubt hatte war passiert, meine Schwester hatte überlebt. Meine Mutter hatte wirklich recht gehabt! Ich durfte nie aufgeben.

Die AuswandererWo Geschichten leben. Entdecke jetzt