Kapitel 8

2 0 0
                                    

Immer weiter zog er den Pfeil nach hinten, gleich würde dieses todbringende Geschoss davonfliegen und die Wölfin durchbohren. Oder hatte er mich gesehen? Wollte er mich treffen? Ich wusste nicht, was er wollte, aber allein die Tatsache, dass hier draußen noch jemand war, sogar jemand, der einen Bogen hatte, erstaunte mich. Dieser Junge machte mich neugierig und er machte mir Angst. Es war, als hielte die ganze Welt still, in diesen kurzen Sekunden in denen die Bogensehne gespannt war, in denen ich mit mir kämpfte, was ich tun sollte. Doch schließlich siegte meine Neugierde. In dem Moment, als der fremde Junge den Pfeil losließ trat ich hinter dem Baum hervor. Sichtlich erschrocken zuckte der Junge zusammen und der Pfeil wurde abgelenkt. Wenige Meter von mir entfernt flog er ins Gebüsch. Ich stand bloß da und betrachtete den Jungen über das Wasser hinweg. Ich sagte nichts, regte mich nicht, stand nur da. Auch der Junge schaute mich stumm an. So standen wir eine ganze Weile da, betrachteten uns gegenseitig. Irgendwann räusperte er sich und rief mir über den Fluss hinweg zu: "Wer bist du?" "Zoe",antwortete ich. Er nickte. "Kann ich herüberkommen?" Jetzt nickte ich. Prüfend sah er sich nach einem Ast um, der stark genug war, ihn zu tragen. Schließlich nahm er einen und legte ihn über den Fluss. Vorsichtig setzte er einen Schritt darauf, noch einen. Der Ast trug ihn. Dann balancierte er über den Fluss und beförderte den Ast schließlich mit einem Tritt in den schäumenden Fluss, wo er davongetragen wurde. "Die Wölfe kommen gerne herüber.", erklärte er. Dann deutete er auf die Wölfin. "Was ist mit dem da?" "Meine Freundin." Er nickte. "Was ist mit ihr passiert?" er zeigte zu Lucia. "Sie ist in den Fluss gefallen" Vorsichtig kniete er sich neben sie. Er legte eine Hand auf ihre Stirn. Dann öffnete er seinen Beutel, holte ein Bündel Kräuter hervor, schob ihr vorsichtig einige davon in den Mund und brachte sie zum Schlucken. Dann erhob er sich wieder und sagte: "Sie muss in eine Stadt, nur dort kann sie sicher überleben. Hier haben wir nicht die Möglichkeit sie zu retten." In eine Stadt? Ich dachte daran, was meine Eltern mir über die Städte erzählt hatten, aber um Lucia zu retten, würde ich dorthin gehen. "Gibt es keine andere Möglichkeit?"
"Nein."
"Wie kommen wir dorthin?"
"Der Fluss wird euch führen. Er führt direkt an der nächsten Stadt vorbei. Wenn ihr ein Floß hättet, wäret ihr schnell dort."
Aber wir hatten nun mal keines. Bedeutete das, dass Lucia sterben musste? Ich sah zu ihr, die Kräuter, die der fremde Junge ihr gegeben hatte, hatten sie beruhigt. Mir schien sie nicht mehr ganz so krank zu sein, doch wahrscheinlich täuschte ich mich. "Können wir sie nicht damit heilen?", fragte ich und deutete auf seinen Beutel. Er schüttelte den Kopf. "Aber vielleicht können wir aus Ästen ein Floß bauen. Ich habe das schon mal gemacht, vielleicht schaffe ich es nochmal." Ich nickte und wir sahen uns auf der Insel nach Ästen um. Ich wusste nicht, wie es funktionieren sollte, schließlich gab es hier nicht einmal Äste, die dick genug wären, uns ans Ufer zu tragen. bringen. Doch er wirkte so sicher, dass es möglich war. Und ich vertraute ihm, er strahlte so eine ruhige Sicherheit aus. Man konnte ihm nur vertrauen. Ich fragte: "Wie?" Er wies mich an, ihm einige Äste zu bringen und begann. Als es dunkel wurde sagte er: "Wir sollten schlafen gehen." Also wickelten wir uns beide in unsere Decken und legten uns auf den kalten Erdboden. Schnell schlief ich ein. Mitten in der Nacht weckte mich ein jaulen. Es war leise, doch laut genug, dass es mich weckte. Ich hob den Kopf, der Mond war zu sehen. Ein seltener Anblick, doch ein wunderschöner. Der Himmel war genau dort, wo der Mond stand aufgerissen und ließ einen kleinen Blick auf diese leuchtende Kugel zu, die ich noch nicht oft gesehen hatte. Ich staunte. Warum leuchtete der Mond? Was war es, das ihn dieses schöne Licht ausstrahlen ließ? Ein Feuer, wie es wohl bei der Sonne war, konnte ich ausschließen. Es war ein weißes Licht, kein Rot-orangenes. Ich konnte es mir nicht erklären, es war wie Magie. Ich überlegte ob ich den Jungen wecken sollte, der neben mir lag und schlief, schließlich sah er den Mond bestimmt auch nicht so oft u.d dieser Moment war wirklich magisch. Die Spiegelung des Mondlichts auf dem Wasser verzauberte mich. Ich war kurz davor, ihn zu wecken, da hörte ich seinen ruhigen Atem, er schlief tief und fest. Ich beschloss, ihn nicht zu wecken, er hatte am Tag viel gearbeitet und insgeheim fürchtete ich mich etwas vor ihm. Lucia? Sie konnte ich nicht wecken, sie lag immer noch fiebernd unter der Tanne, doch sie hätte es sicherlich gerne gesehen. Ich wühlte mich aus der Decke, zitternd lief ich zu ihr und kühlte ihre Stirne, täuschte ich mich oder war sie etwas kühler geworden? Hatten die Kräuter vielleicht doch etwas gebracht? Aber wahrscheinlich war das nur Illusion. Da drang das jaulen wieder an mein Ohr. Ich drehte mich um, es kam von der Wölfin. Ihr zerwühltes, struppiges Fell glänzte im Mondlicht, sie sah ganz anders aus. Viel kräftiger, viel glücklicher. Und-täuschte ich mich, oder sah Lucia nicht auch gesünder aus? War der Mond magisch? Konnte er sie heilen? Ich lachte über meine Dummheit und presste mir gleich die Hand auf den Mund. Meine Stimme schien zu laut für diesen Moment. Langsam machte ich die paar Schritte auf die wölfin zu, ich kniete mich neben sie und strich durch ihr Fell. Wölfin. Du hast ja gar keinen Namen. Ich überlegte, wie ich sie nennen könnte. Vielleicht Mond? Das glitzernde mondlicht brachte mich auf diese Idee. Da fiel mir diese seltsame, uralte Sprache ein, von der meine Mutter immer gesprochen hatte, für mich hatten ihre Worte immer wie Beschwörungsformeln oder Zaubersprüche geklungen. Doch sie hatten einen schönen klang und sie erinnerten mich an meine Mutter. Ein paar Wörter hatte ich mir gemerkt, war nicht auch Mond darunter gewesen? Ja, da war ich mir sicher. Irgendetwas mit Lu? Luma? Nein. Luna? Ja, das war es wohl. Luna. Ein schöner Name für meine Wölfin. "Luna", wisperte ich in ihr Ohr. Ich saß neben ihr, bis Kälte und Müdigkeit zu stark wurden und ich zurück zur decke ging. Als ich mich umdrehte, sah ich ihn, er saß aufrecht da, das Mondlicht strahlte aus seinen Augen, und betrachtete mich einfach nur. Ich war mir nicht sicher, ob ein leichtes lächeln auf seinem Gesicht lag.

Du hast das Ende der veröffentlichten Teile erreicht.

⏰ Letzte Aktualisierung: Jun 09, 2015 ⏰

Füge diese Geschichte zu deiner Bibliothek hinzu, um über neue Kapitel informiert zu werden!

Die AuswandererWo Geschichten leben. Entdecke jetzt