Ich laufe orientierungslos. Weiß nicht wohin. Will so, wie ich bin, nicht zu ihm. Er soll mich nicht so sehen und dennoch laufe ich zum Friedhof.
Die Sonne ist gerade erst untergegangen. Es wird noch Stunden dauern, bis er kommt. Ich hoffe, dass er nicht kommt und loslassen konnte und es nicht mehr nötig hat, nachts auf einen Friedhof zu gehen. Aber er würde auch kommen, wenn's so wäre. Ich weiß das. Er würde mir trotzdem etwas über Sterne erzählen wollen. Mir die Ruhe geben. Aber die kann mir heute niemand geben.
Statt mich wie immer auf die Mauer zu legen, setze ich mich dagegen. Den Kopf zwischen den Beinen, die Arme den Körper umschlungen, den Boden anstarrend. Ich kann nicht atmen und ich befürchte, dass ich es nie wieder kann.
~
Er ist da. Aber er sieht mich nicht oder erkennt mich nicht. Er soll einfach gehen und gleichzeitig will ich, dass er zu mir kommt. Eigentlich weiß ich nicht, was ich will.
"Man, hast du einen Kerl gesehen? Ungefähr 1,75. Blond. Hat in den Himmel gestarrt? War er hier?"
Er kommt näher und als ich seine Füße sehe, erkennt er mich.
"Heilige Scheiße. Du bist es. Was machst du auf dem Boden?", fragt er. Ich antworte nicht.
"Was ist passiert? Bitte rede mit mir. Nur dieses eine mal. Was ist passiert?"
Er macht sich Sorgen und das bereitet meinem Herzen einen Stich. Niemand macht sich je Sorgen um mich. Wie in Trance hebe ich meinen Kopf und ich weiß, was er in der Dunkelheit trotzdem sehen kann. Ein zugerichtetes Gesicht. Eine womöglich gebrochene Nase und ein geschwollenes, blaues Auge. Meine Visage ist ein einziger Schmerz, aber ich nehme ihn dankend an. Er lenkt von dem anderen Schmerz ab, den Schmerz, der tief in mir verborgen ist.
"Heilige Scheiße von Jesus Christus", murmelt er und fällt vor mir auf die Knie. Mir fällt auf, dass er die Kapuze nicht auf hat. Ich versteh nicht ganz, warum ich das durch meine Taubheit und den Schmerz bemerke.
Seine Hände betasten vorsichtig mein Gesicht und ich starre in seine Augen. Es sind keine Sterne, aber das blau wie der Ozean schafft es, dass der Sturm in mir ein wenig abklingt.
"Nichts gebrochen", flüstert er behutsam. "Bist du noch wo anders verletzt?"
Statt auf eine Antwort zu warten, die er womöglich nie bekommen hätte, zieht er mich auf meine Beine und als ich fest auf den Füßen stehe, betastet er mich von oben bis unten. Sonst hätten mich diese Berührungen unsicher gemacht, aber weil heute so ganz und gar nichts stimmt, merke ich sie kaum. Es tut nichts weh. Es war nur das Gesicht. Es ist sonst nie das Gesicht, sondern immer alles andere.
"Okay, okay. Man, ich werde dich jetzt umarmen."
Er nimmt mich fest in den Arm. Automatisch schlinge auch ich die Arme um ihn. Das ist die erste Umarmung seit Monaten.
"Ich heiße übrigens Caden. Es wird langsam mal Zeit, dass du das weißt", sagt er an meiner Schulter.
"Lucien", entgegne ich leise mit brüchiger Stimme.
"Französisch, das gefällt mir", schmunzelt Caden.

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Sternenhimmel
Krótkie OpowiadaniaZwei Unbekannte, ein Friedhof und ein gemeinsamer Sternenhimmel. Der Anfang einer besonderen Geschichte. Covermakerin und Betaleserin @CastleeltsaC