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Jeder andere hätte sich wahrscheinlich nicht viel bei der Notiz in einem Märchenbuch gedacht, doch mich ließ der Gedanke nicht los, dass der Verfasser der Nachricht wollte, dass sie gefunden wurde.

Und genau deshalb hatte ich gestern Abend noch ewig damit verbracht den kleinen Zettel zu betrachten. In der Hoffnung eine Antwort auf meine Fragen zu finden, hatte ich das Stück Papier tausende Male in meinen Fingern herum gedreht, doch bis auf das Zitat der Grinsekatze war es leer.

„Jedes Abenteuer erfordert einen ersten Schritt.“ Was sollte diese Nachricht bezwecken und an wen richtete sie sich überhaupt? Viele Male hatte ich mich das schon gefragt. Was wenn nicht ich sie finden sollte und der eigentliche Empfänger sie nun nicht erhalten konnte? Sollte ich das Buch zusammen mit dem Zettel einfach wieder zurücklegen oder maß ich dem Ganzen zu viel Bedeutung zu? Vielleicht hatte ja jemand das Buch vergessen und der Zettel war wirklich bloß ein Lesezeichen. Aber warum war es dann mit H unterzeichnet?

Ich stöhnte genervt auf. Es reichte ja nicht, dass ich letzte Nacht deswegen zu wenig Schlaf bekommen hatte. Nein, jetzt musste ich auch schon während der Arbeit darüber nachdenken. Zum Glück war heute Sonntag, da hatte die Bibliothek nur zwei Stunden im Vormittag geöffnet. Dafür hatte ich Montags und Mittwochs frei, da wir an diesen Tagen geschlossen hatten.

Nichtsdestotrotz waren zwei Stunden genug, um meinen Blick gefühlte tausend Mal in Richtung der Stelle schweifen zu lassen, an der ich gestern Alice im Wunderland gefunden hatte.

Vielleicht würde ja die Person auftauchen, die das Buch dort hinterlassen hatte. Doch natürlich konnte ich nicht die ganze Zeit nach jemandem Ausschau halten von dem ich nicht einmal wusste wie er aussah. Mir war noch nicht einmal bekannt ob H ein Junge oder ein Mädchen war. Außerdem hatte ich auch ohne meine Beobachtungen schon genug zu tun.

Also gab ich mein Vorhaben schließlich auf und versuchte mich so gut es ging auf meine Arbeit zu konzentrieren. Ich stand die meiste Zeit über am Tresen und trug in den kleinen Computer ein, wer welches Buch auslieh.

Da entdeckte ich einen etwas ratlos aussehenden jungen Mann mit einem kleinen Jungen an der Hand. Ich hatte die beiden noch nie hier gesehen und sie schienen sich auch nicht auszukennen. Deshalb verließ ich meinen Platz hinter der Theke und bot dem Mann kurzerhand meine Hilfe an.

„Entschuldigen Sie, suchen sie etwas Bestimmtes?“ erkundigte ich mich höflich. Sichtlich erleichtert meinte der Mann „Ich suche Hörbücher für meinen Sohn. Haben Sie so etwas hier?“ Nickend bejahte ich seine Frage und führte ihn zu einem schmalen Regal zwischen der Kinderabteilung und den DVDs. Lächelnd bedankte er sich, bevor ich erneut meinen Platz hinter dem Tresen einnahm.

Doch etwas war anders als zuvor. Direkt neben dem Computer lag hübsch platziert ein Buch, aus dessen oberem Rand ein kleiner Zettel ragte. Hatte der Unbekannte erneut eine Botschaft hinterlassen? Oder wollte einfach jemand ein Buch zurückgeben, hatte aber keine Zeit zu warten, bis ich zurück war? Eher unwahrscheinlich.

Schnell sah ich mich um, doch außer dem Mann und seinem Sohn war niemand mehr zu sehen. Nicht ungewöhnlich, denn die Öffnungszeiten der Bibliothek würden schon in einigen Minuten enden.

Mein Blick glitt zurück zu dem Buch vor mir. Harry Potter und der Orden des Phönix. Ich hatte dieses Buch schon häufig gelesen, denn die Harry Potter Reihe gehörte zu meinen Lieblingsbüchern. Ich fand es einfach wundervoll in der Welt voller Magie zu versinken. Doch das war jetzt nebensächlich. Viel wichtiger war die Notiz zwischen den Seiten.

Gerade wollte ich nach dem Buch greifen, da wurde ich von einer mir mittlerweile bekannten Stimme unterbrochen. „Wir würden gerne diese hier ausleihen. Nochmal vielen Dank für Ihre Hilfe.“ Vater und Sohn hatten sich wohl nicht für eines der Hörbücher entscheiden können, denn sie legten gleich drei der CD Hüllen auf die Theke.

Als könnte es sich jeden Moment in Luft auflösen, blickte ich alle paar Sekunden zu dem Harry Potter Band neben mir, während ich die Hörspiele als ausgeliehen verbuchte. Mit einem Lächeln verabschiedete ich die beiden, doch innerlich konnte ich es gar nicht abwarten, dass ich endlich die Tür der Bibliothek hinter ihnen abschließen konnte und meine Arbeit für heute endete.

Endlich konnte ich mich wieder Harry Potter widmen. Oder eher dem Zettel der zwischen den Seiten steckte. Vorsichtig zog ich das Stück Papier heraus und erkannte sofort die selbe sorgfältige Handschrift, die auch die gestrige Notiz geziert hatte.

„Schon wieder ein neues Buch?“ stellte mein Onkel, der in diesem Moment sein Büro verließ, schmunzelnd fest. Erschrocken zuckte ich zusammen und ließ so unauffällig wie möglich den Zettel in meiner Hosentasche verschwinden. „Du hast doch erst gestern eines ausgeliehen.“

Ich zuckte nur mit den Schultern, denn ich wollte Onkel Anthony nichts von der Person erzählen, die geheimnisvolle Briefe in seiner Bücherei hinterließ. Das sollte vorerst mein Geheimnis bleiben. Solange bis ich wusste, wer hinter all dem steckte und aus welchen Gründen. Doch dafür musste ich erst einmal wissen, was auf der neuen Botschaft geschrieben stand.

Allerdings hatte ich meine Rechnung ohne das sonntägliche Mittagessen gemacht. Denn Sonntags kochten Onkel Anthony und ich immer gemeinsam, nachdem die Bibliothek schloss. Er hatte darauf bestanden, denn er war der Meinung, jeder Mensch bräuchte seine Rituale. So wie andere also jeden Sonntag zur Kirche gingen, so standen wir gemeinsam in der Küche.

Normalerweise hatte ich auch nichts dagegen. Im Gegenteil, ich fand es sogar sehr schön, zu alten Schallplatten zu summen und dabei Gemüse zu schneiden. Heute hielt ich es jedoch kaum in der Anwesenheit meines Onkels aus.

Der zweite Zettel steckte so unschuldig leicht in meiner Hosentasche, dass ich ihn fast nicht spürte. Doch allein das Wissen, dass er dort war, machte mich nervös. Ich konnte nicht länger warten. Ich musste ihn endlich lesen.

Library of Love (l.s.)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt