You

484 55 19
                                    

Der angenehme Geruch nach Büchern hüllte mich ein, während ich durch die Reihen der hohen Bücherregale schritt. Gedankenversunken ließ ich meine Finger über die glatten Buchrücken gleiten. Ich liebte die gemütliche Atmosphäre der kleinen Bibliothek. Ich genoss die Stille, die hier herrschte, bevor die Bücherei in ein paar Minuten öffnen würde. Nur der alte Holzboden, der leise unter meinen Schritten knarrte, unterbrach die Stille.

„Louis? Kannst du mir mal eben zur Hand gehen?“ ertönte die Bitte meines Onkels Anthony hinter der unscheinbaren Tür, die in sein Büro führte. Ich wohnte den Sommer über bei ihm in London, bis hier im Herbst mein Studium anfangen würde und half ihm bis dahin in seiner Bibliothek.

Ich übernahm Aufgaben wie Bücher sortieren oder die Kunden bedienen, während mein Onkel meist die Buchhaltung erledigte oder alte Bücher reparierte, die durch den ständigen Gebrauch abgegriffen waren. Ein Buch wegzuwerfen kam für ihn nicht in Frage. Zu sehr liebte er jedes einzelne Werk, dass in seiner Bücherei zum Ausleihen bereit gestellt wurde. „Jedes Buch ist das Tor in eine andere Welt und wir müssen diese Welten beschützen.“ hatte er nur geantwortet, als ich ihn einmal nach dem Grund gefragt hatte, wieso er sich die Mühe machte.

Als ich das Büro betrat, sah ich sofort, was ich diesmal für ihn tun sollte. Auf dem Tisch lag ein hoher Stapel neuaussehender Bücher. „Louis, könntest du diese Exemplare hier noch in die Regale stellen bevor wir öffnen?“ Bücher einräumen, die Hauptaufgabe wenn ich hier arbeitete. Doch ich hatte nichts dagegen. So konnte ich in Ruhe in den Büchern stöbern und mir ab und zu eines zur Seite legen, welches ich dann später lesen wollte. Doch heute war es nicht so entspannt, da ich mich wirklich beeilen musste, wenn ich rechtzeitig fertig sein wollte.

Da die Bibliothek an einer sehr belebten Straße von London lag, war hier meistens viel los. Die gemütliche Atmosphäre hier drinnen hob sich stark von der geschäftigen Stimmung draußen ab, weshalb sich viele Bücherbegeisterte hierher verirrten.

Doch mittlerweile hatte ich die Ordnung der Bücherei verstanden und kannte mich gut aus. So dauerte es nicht lange, bis jedes Buch seinen richtigen Platz gefunden hatte und ich wenig später die Eingangstür für Besucher aufschloss.

Da heute ein Samstag war, war die Bibliothek bereits eine halbe Stunde später gut besucht. Eine alte Dame stöberte in den Krimis, ein kleiner Junge versuchte seine Mutter zu den Comics zu ziehen und ein Mädchen und ein Junge, circa in meinem Alter, standen bei den Romanen. Ich sah eine Weile in ihre Richtung. Die beiden waren schon häufiger hier gewesen und sie sahen wirklich nett aus. Ich wünschte ich hätte den Mut sie anzusprechen, denn bisher hatte ich keine Freunde hier in London.

Eine Weile rang ich mit mir selbst, ob ich zu ihnen hinüber gehen sollte. Doch dann wurde ich abgelenkt von der alten Dame, die sich für eines der Bücher entschieden hatte und es bei mir ausleihen wollte. Als ich dann erneut in Richtung Romane sah, war niemand mehr dort zu sehen.

Ich schüttelte den Kopf, um den Gedanken an die beiden zu verdrängen. Wenn erst mein Studium begann, dann würde ich dort bestimmt einige neue Leute kennenlernen. Meine Freunde aus Doncaster hatte ich alle zurücklassen müssen, als ich nach London gezogen war. Ich vermisste sie alle jetzt schon schrecklich und ich fragte mich, was sie wohl gerade trieben. Wahrscheinlich würden sie den heutigen Abend gemeinsam in einem Klub verbringen, denn die meisten meiner Freunde blieben noch bis zum Ende des Sommers in meiner geliebten Heimatstadt.

Meine Gedanken glitten zu meiner Mum und meinen Geschwistern, die ich nun ebenfalls länger nicht mehr sehen würde. Die kleinen Quälgeister konnten einem wirklich auf die Nerven gehen, doch trotzdem liebte ich sie unglaublich. Ich nahm mir vor, heute Abend mal wieder zu Hause anzurufen.

Während ich weiterhin an meine Familie dachte, verging der Tag wie im Flug und ehe ich mich versah, war es schon Zeit, die Bibliothek zu schließen. Gemeinsam mit meinem Onkel ging ich eine letzte Runde zwischen den Regalen umher, um am Ende des Tages für Ordnung zu sorgen. In der Leseecke der Kinder fand ich eine einsame Mütze, die ihren Weg in die Fundkiste fand. Außerdem stellte ich einige auf den vereinzelten Tischen liegende Bücher zurück ins Regal.

Bis mir auf einmal ein Exemplar ins Auge stach, das nicht so wirkte, als wäre es versehentlich liegen gelassen worden. Es befand sich mittig auf dem kleinen Tisch vor einer gemütlichen Couch. Ich hob es auf, um das Cover besser betrachten zu können. Alice im Wunderland.

Plötzlich rutschte ein kleiner Zettel zwischen den Buchseiten hervor und flatterte zu Boden. Wahrscheinlich war das nur ein vergessenes Lesezeichen von jemandem der dieses Buch ausgeliehen hatte. Ich bückte mich und wollte das Stück Papier gerade zerknüllen, da bemerkte ich die sorgfältige Schrift auf der Vorderseite.

„Every adventure requires a first step. xH“

Ich hatte Alice im Wunderland gelesen, daher erkannte ich das Zitat der Grinsekatze. Doch wer war H? Womöglich die Person, die die Nachricht hier hinterlassen hatte. Doch welchen Grund könnte die Person dafür gehabt haben?

„Louis, wo steckst du so lange?“ riss mich die Stimme meines Onkels aus meinen Überlegungen. „Ja, ich komme schon!“ antwortete ich. Schnell, jedoch darauf bedacht ihn nicht zu zerknittern, steckte ich den Zettel in meine Hosentasche und klemmte mir das Buch unter den Arm, bevor ich mich beeilte zu meinem Onkel zu gelangen.

Gemeinsam verließen wir die Bibliothek durch einen Hinterausgang, der in ein kleines, spärlich beleuchtetes Treppenhaus führte. Praktisch, dass die Wohnung von Onkel Anthony direkt über der Bücherei lag. So sparten wir uns eine Fahrt mit der Londoner Tube, die um diese Zeit immer vollgestopft war mit Pendlern und Passanten.

Denn auch wenn unser Heim nicht besonders groß war, fühlte ich mich dort sehr wohl. Hier herrschte die gleiche behagliche Atmosphäre wie auch in der Bibliothek. Man bemerkte deutlich den Einfluss meines Onkels. Zwischen mehreren Bücherregalen schmückte eine kleine Couch in Flickenmuster das Wohnzimmer, welches einen direkten Durchgang zur Küche besaß. So wirkte der Raum heller und größer und ließ gleichzeitg Platz für einen flauschigen Teppich, der die Schritte auf dem Holzboden dämpfte. Neben einer Kommode auf der die unterschiedlichsten Dinge standen, die doch irgendwie zueinander passten, befanden sich drei Türen.

Die erste führte in ein hübsches Bad, die zweite in das Schlafzimmer meines Onkels und die dritte in das Gästezimmer, das ich während meines Aufenthaltes hier bezog. Es war bestückt mit einem großen Bett, einem hölzernen Schreibtisch auf dem meine Uni Broschüren lagen und einem Kleiderschrank. Es war nicht viel, doch in einem der teuren Studentenwohnheime hätte ich wahrscheinlich auch nicht mehr Platz.

Nebenan hörte ich die Töpfe in der Küche klappern, doch an Abendessen konnte ich jetzt nicht denken. Das einzige, das in meinem Kopf Platz hatte, war der Absender des geheimnisvollen Briefes.

Library of Love (l.s.)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt