HELL

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"Was machst du hier?" Sie fragte es mit einem Hohn in der Stimme, sodass ich mir sicher war, hier nicht willkommen zu sein. "Ach, warte, ich kann mir schon denken, was du hier mit mir versuchen wolltest. Und an meinem Handy rumschnüffeln? Sag, geht's noch?" "Lyla, ich...", stotterte ich. In Wahrheit hatte ich eigentlich überhaupt keinen Plan, was ich sagen wollte. "Verschwinde!", befahl sie lautstark. Und ihr teuflischer Blick untermalte, dass sie es ernst meinte. Wie erstarrt sah ich sie an. Doch dann verließ ich ohne zu Wiedersprechen ihr Zimmer.
Nachdem ich die Tür langsam geschlossen hatte, drückte ich meinen Rücken gegen sie und sah mir die gegenüberliegende Wand an. Was war hier gerade passiert?

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So schnell wie ich konnte, verließ ich das Krankenhaus und setzte mich in mein Auto. Meine Hände griffen ans Lenkrad, aber der Motor war aus. Ich versuchte mir vor Augen zu führen, was der Typ am Telefon meinte. Jeremy - so hieß er, erinnerte ich mich. Obwohl es mich nichts anging, wollte ich mehr über ihn wissen. Im Hinterkopf hatte ich mir die Worte von Andreas Frau gespeichert. Ich sollte nicht so neugierig sein. War ich aber. Mit den Gedanken bei Lyla und ihm fuhr ich zu Andreas Haus.

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Schon wollte ich die Tür zum Büro öffnen, als mir ein Taschentuch entgegengeflogen kam. Dank meiner guten Reflexe konnte ich problemlos ausweichen. Ich hob es auf, als es neben mir auf dem Boden landete. Schnell stellte ich fest, dass es ganz feucht war. Etwas angeekelt schmiss ich es in den nächstgelegenen Mülleimer - also dem, in welchem die Zeichnung lag. Ich drehte mich um und sah, wie Andreas, mit einem Arm seinen Kopf stützend, an seinem Schreibtisch saß. Er sah traurig aus. Fast trauriger als gestern. Ich ging zu ihm und legte meine Hand auf seine Schulter. "Ich bin da, Bruder", bestätigte ich ihm. Er sah auf. "Danke...", flüsterte er und wischte sich seine Tränen mit einem neuen Taschentuch weg. Ich wartete darauf, dass er mich fragte, ob er sich bei mir ausschütten darf, aber es kam nichts. Also sprach ich ihn an. "Bruder, magst du mir nun erzählen, was dich so bedrückt?" Ich sah ihn an. Andreas atmete laut aus. Meine Pupillen weiteten sich, als sich seine Lippen bewegten. "Oh, man", murmelte er. Nun hielt er sich mit der Hand die Stirn und schaute auf den Tisch. "Bei der Rückfahrt von der Schule, als ich meine Jungs dort hingebracht habe... Ich habe gesehen, dass Lyla von jemanden belästigt wurde. Er ging auf sie los, nachdem sie weglaufen wollte", begann er mit der Wahrheit rauszurücken. Mir kippte die Kinnlade hinunter. "Sie lag schon auf dem Boden, als ich ausstieg, den Typen von ihr wegzog, bevor er ihr noch mehr antun konnte, und auf ihn einschlug. Ich... ich habe den Mann aber nur einmal geschlagen. Ich schwöre!", erzählte er mit Scham weiter.

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. "Ich weiß, dass es ein Fehler war, den Typen zu schlagen. Aber ich wollte ihr doch helfen", versuchte Andreas sich zu wehren, ohne dass ich etwas gesagt hatte. "Mensch Andreas, du hast nur geholfen! Das war Notwehr!", versuchte ich ihm klar zu machen. Aber Andreas wirkte nicht fröhlicher. "Ja, vielleicht war es das...", meinte er. "Vielleicht hätte ich auch einfach die Polizei rufen sollen". "Ja, vielleicht", wiederholte ich nur seine Worte. "Danke, dass du es mir anvertraut hast". Er zuckte nur mit den Schultern.

Langsam glitt mein Rücken die Tür hinunter, bis ich in der Hocke auf dem Boden saß. Ich dachte nach. Über alles. Da war das Gefühl, dass einem alles zu viel wird. Zu viel, worin ich meine Nase gesteckt hatte. Zu viele Gedanken. Zu viel Neugier. Es war alles zu viel.

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Schlaftrunken öffnete ich meine Augen und warf ein Blick auf mein Handy. Sieben verpasste Anrufe. Alle von Andreas. Aber ich rief ihn nicht zurück. Stattdessen quälte ich mich aus dem Bett, ging gemütlich ins Badezimmer und genoss eine warme Dusche. Nachdem ich mich gründlich gewaschen hatte, putzte ich mir sauber die Zähne. Ein bisschen Schminke ins Gesicht und die Haare gekämmt, schlüpfte ich in frische Kleidung. Entspannt ließ ich mir mein Frühstück, was aus einer Tasse Kaffee und einem Apfel bestand, schmecken. Zwischenzeitlich dachte ich darüber nach, wie Stephanie es fand, dass ihr Mann jemanden geschlagen hatte. Hatte er ihr es überhaupt erzählt? Dann aber schüttelte ich den Gedanken ab. Ich schluckte den letzten Happen hinunter und stellte die Tasse beiseite. Normalerweise würde ich mich jetzt auf zur Firma machen, aber diese Zeiten waren vorbei. Und es war immer noch so ungewohnt. Deshalb entschied ich mich dazu, irgendetwas anderes zu unternehmen. Dass ich aber direkt in die Arme meines Bruder laufen würde, konnte ich ja nicht ahnen.

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Mein Weg führte mich in einen nahegelegenen Park. Grillen zirpten im hohen Gras, während Libellen über den großen Teich flogen. Ich schlenderte einen Kiesweg entlang, der rundum das Gewässer führte. Mit Gelüst atmete ich die frische Luft ein. Als ich mich kurz zum Ausruhen auf eine Bank aus altem Holz und rostigem Metall setzte, schloss ich die Augen und lauschte den Geräuschen der Insekten. Das war es, was Lyla liebte. Und schon wieder dachte ich an sie.
Doch urplötzlich hörte ich ein Brüllen. Und nein, es war kein freilaufender Löwe. "Bleib stehen!" Ich öffnete meine Augen und sah wie mein Bruder vor einem muskulösen Mann floh. "Wo ist sie? Sag es mir!", rief der Typ, als er Andreas einholte und ihn am Arm packte. "Ich weiß es nicht!", erklärte mein Bruder mit einem Schmerz in der Stimme. „Ich weiß, dass du weißt, wo sie ist! Sag. Es. Mir!", forderte der Kerl nun ernster. Ich sah an dem Gesichtsausdruck meines Bruders, dass der Typ nun stärker zugriff. Dieser Mann hatte meinem Bruder wehgetan. Meinem Bruder. Bevor der Kerl ausholen konnte, sprang ich auf und fing den Schlag für Andreas ab. Meine Wange tat höllisch weh. Und kurz war ich mir nicht sicher, ob er mir zwei Zähne ausgeschlagen hatte. Doch das hatte er nicht. Allerdings, um meinem Bruder schützen zu können, wäre es mir das wert gewesen.
Da der Typ nicht mit meinem Einsatz gerechnet hatte, ließ er Andreas Arm los. Der Kerl sah mich nur wütend an. "Ich finde schon raus, wo sie ist. Und dann werde ich mich dafür rächen, was sie mir angetan hat", meinte er mit tiefer Stimme, warf Andreas einen hasserfüllten Blick zu, drehte sich um und ging.

Ich drehte mich zu Andreas um und nahm ihn schützend in den Arm. "Danke, Bruderherz!" Ich schenkte ihm ein Lächeln. "War das der Typ?", wollte ich wissen. Er nickte. "Was bist du überhaupt immer da, wo ich auch bin?", fragte ich ihn grinsend. Er zuckte mit den Schultern. "Weiß nicht". "Ich wollte hier nur joggen. Aber scheinbar habe ich nun ein ernsthaftes Problem", stellte er fest. Und wie er das hatte.

Meine Augen folgten dem Körper meines Bruders. Sie beobachteten, wie er auf Kies zum Parkplatz trampelte. Ich steckte mir Kopfhörer in die Ohren und hörte laut Musik.

Ich drehte mich in die andere Richtung, in der der angriffslustige Mann gegangen war. Ich wusste nicht, was ich mir dabei dachte, aber ich rannte den Weg entlang, in der Hoffnung, auf den Typen zu stoßen. Vielleicht ließ er mit sich reden. Vielleicht konnte ich ihn soweit bringen, dass er meinen Bruder in Ruhe ließ. Vielleicht würde er mir erzählen, was er von ihm wollte, wenn ich ihm im Gegenzug etwas anbot. Oder aber, das war noch eine dumme Idee und der Kerl würde mich nochmal schlagen - nur diesmal bewusst - weil ich mich für Andreas eingesetzt hatte. Allerdings glaubte ich immer an das Gute in Menschen, so auch bei ihm, hier und jetzt. Und das war der nächste Fehler.

Abrupt blieb ich stehen und riss mir die Kopfhörer aus den Ohren, als ich den Kerl sah. Ich hielt etwas Abstand und beobachtete den Mann, wie er auf sein Handy starrte. Es dauerte nicht lange bis er sich das Gerät an ein Ohr hielt - er telefonierte scheinbar. Das Telefonat war nach kurzer Zeit vorbei, als der Typ wutentbrannt auflegte und sein Handy auf den steinigen Boden schmiss. Es flog direkt auf die Scheibe, also vermutete ich, dass mindestens Risse entstanden waren. So wie der Kerl drauf war, hatte ich Angst, auf ihn zuzugehen. Aber das musste ich auch gar nicht mehr, denn als er sein Handy aufhob, erblickte er sichtlich sauer meine Wenigkeit. Kurz überlegte ich wegzulaufen, doch dazu hatte ich nun keine Zeit mehr. Denn der Typ rannte auf mich zu und packte mich am Hals, bevor ich irgendwie reagieren konnte. Würgend versuchte ich mich loszureisen, aber mit jedem Versuch wurde sein Griff fester. Das war der Moment, an dem ich dachte, dass ich sterben müsste; dass es das nun war. Bis mich ein kurzes Stechen von all meinen Sorgen befreite. Ich nahm ein stumpfes "Führe mich zu ihr" wahr, bevor der Schmerz nachließ, meine Augen zufielen und ich zu Boden ging.

War das die Hölle?

BUT I NEED YOUWo Geschichten leben. Entdecke jetzt