Kapitel 4

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Heute Morgen ist es ziemlich hektisch. Wir treffen uns nachher bei meinen Großeltern. Eigentlich erst am Nachmittag, meine Mutter stresste aber trotzdem schon beim Aufstehen.

Ich mache mir eine Tasse Kaffee und esse zwei Semmeln mit Marmelade. Ich esse morgens nie recht viel. Ich bekomme dann noch nichts runter. Nun, generell esse ich eher wenig, was man mir leider auch ansah. Jeder spricht mich früher oder später darauf an. Egal ob Paul, mein Arbeitskollege und ehemaliger Studienfreund, mein Vater oder irgendwelche Menschen in der U-Bahn. Okay, das letzte ist jetzt ein wenig übertrieben, aber es sind fast alle in meinem Bekanntenkreis. »Nicht trödeln. Iss auf und trink deinen Kaffee. Wir haben heute noch viel vor«, hetzt meine Mutter schon wieder. »Beruhige dich ein bisschen. Es ist gerade mal halb neun, wir sollen nicht vor Zwei bei Oma und Opa sein.« Ich trinke den letzten Schluck von meinem Kaffee und stehe auf, um mein Handy zu holen. Gestern war so viel los, dass ich mein Handy ganz vergessen habe. Als ich das W-Lan einschalte, trudeln auch schon die ersten Benachrichtigungen ein. Überwiegend ist es Werbung von irgendwelchen Apps, die ich installiert habe. Ein paar WhatsApp-Nachrichten sind aber auch dabei. Natürlich von Paul. Mit ihm schreibe ich am meisten, sowohl von der Anzahl der Nachrichten als auch inhaltsmäßig. Mit den anderen schreibe ich nur ab und zu und in der Regel auch nur, wenn sie irgendwas von mir wissen wollen. Meistens geht es dabei um die Arbeit. 
Als ich WhatsApp öffne, sehe ich eine mir bislang unbekannte Nummer in meinem Chatverlauf. Anhand der Vorschau ist nicht zu erkennen, wer die Person ist. Ich muss draufklicken, um die Nachricht vollständig zu lesen. Dann weiß die Person allerdings, dass ich die Nachricht gesehen habe. Ob ich will, dass jemand das merkt, weiß ich aber nur, wenn ich weiß, wer die Person ist. Nach ewigem Hin und Her öffne ich schließlich den Chat. Hallo Felix, ich wollte dir auch ... Bis dahin konnte ich es vorhin noch lesen. Jetzt wird es erst spannend. ... noch schöne Weihnachten und ein gutes neues Jahr wünschen. Genieße deinen Urlaub. Bis nächste Woche in der Arbeit. Liebe Grüße, Elina. Elina hat mir geschrieben? Ich kann das gar nicht glauben. Woher hat sie überhaupt meine Nummer? Das kann eigentlich nur Paul gewesen sein. Nachdem ich meine Gedanken sortiert habe, antworte ich ihr. Hallo Elina, das wünsche ich dir auch. Bis bald, Felix.

Nachdem ich die Nachricht abgeschickt habe, packe ich mein Handy in die Hosentasche und gehe auf den Balkon. Auf dem Weg dorthin wird mir bewusst, dass meine Mutter nicht mehr hektisch Sachen wegräumt, einpackt oder die Wohnung putzt. Sie scheint tatsächlich Ruhe gefunden zu haben, so wie ich jetzt auf dem Balkon. Der Ausblick von hier ist einfach traumhaft. Man hat einen schönen Überblick über das gesamte Dorf und im Vergleich zu meiner Stadtwohnung ist es hier auch besonders ruhig. 
»Da bist du«, höre ich meine Mutter plötzlich sagen, »ich weiß, dass das gestern etwas blöd gelaufen ist...« Ich will mich gerade umdrehen und reingehen, als sie mich am Arm packt: »Warte« und weiterspricht: »Darum geht's jetzt auch gar nicht. Ich will dir auch nicht mehr die Gastronomie schönreden. Ich akzeptiere, wie du dich entschieden hast und glaube dir, dass du glücklich bist. Was ich eigentlich sagen wollte, ich habe vor einiger Zeit einen Artikel von einem Psychologen gelesen. Der hat eine Praxis gar nicht so weit weg von dir. Ich dachte, vielleicht kann er dir mit deiner Angst helfen.« Sie drückt mir den Artikel in die Hand. »Okay, danke. Ich würde jetzt trotzdem gerne reingehen. Ich habe keine Schuhe an und hier liegt Schnee.« 

Kurz vor halb Zwei fahren wir gemeinsam zum Haus von Oma und Opa. Es ist nicht weit, praktisch nebenan. Als Kind bin ich diese Strecke oft zu Fuß gelaufen oder mit dem Fahrrad gefahren. Vor dem Haus steht bereits das Auto von Tante Frieda und Onkel Wilhelm. Wir sind also nicht die ersten. Ich mag es grundsätzlich lieber, als Erster wo anzukommen. So habe ich noch Zeit, mich an die Situation anzupassen, ohne sofort von einer Horde Menschen überrumpelt zu werden. Auch wenn sie Familie sind, fühle ich mich meist überfordert, wenn zu viele auf einmal da sind. Warum bin ich nur so nervös? Es ist doch nur die Familie. Andere schaffen das doch auch.
Beim Reingehen hört man schon Kindergeschrei von meinen Cousins. Voller Stolz präsentieren sie ihre Weihnachtsgeschenke Oma und Opa und dem Rest der Familie. Ich bereite mich innerlich auf das Familientreffen vor, indem ich mir gedanklich einige Antworten auf mögliche Fragen, die oft bei solchen Zusammenkünften gestellt werden, zurechtlege. Jacke und Schuhe ziehen wir im Flur aus. Meine Hände stecke ich in die Tasche an meinem Hoodie. Diese Hoodie-Taschen sind ein Grund dafür, warum ich diese Art Pullover so sehr liebe. Der andere Grund ist die Kapuze. Unter der kann ich mich super verstecken, wenn ich unterwegs bin und Menschen mir zu viel sind.
Louis rennt sofort zu den anderen Kindern und tauscht sich mit ihnen aus. Ich setze mich, nachdem ich mich im Raum umgeschaut habe, auf einen Platz am Rand des Tischs. Die anderen setzen sich im nächsten Moment auch an den bereits gedeckten Tisch. Nach und nach erscheint auch der Rest der Verwandtschaft in der Wohnung, bis die Familie vollzählig ist. Ich warte, bis die ersten sich ein Stück vom Kuchen nehmen und greife anschließend auch danach. Auch wenn ich den Kuchen am anderen Ende lieber mag, nehme ich stillschweigend ein Stück des Kuchens in meiner Nähe, um niemanden mit meinem Wunsch zu belästigen. Selbes beim Kaffee. Da ich niemanden beim Essen stören will, warte ich, bis jemand in meiner Ecke Kaffee will und die Kaffeekanne vor sich abstellt. Danach esse ich zuerst aber ein weiteres Stück von meinem Kuchenstück. Ich will ja nicht aussehen, als ob ich ihn kopiere. 

Abends falle ich todmüde ins Bett. Es war an diesem Tag mehr Kommunikation als ich sonst an einem durchschnittlichen Tag in meinem Leben habe. Ich wickle die Decke um mich rum und schließe meine Augen. Ich schlafe aber nicht ein. Egal was ich versuche, meine Gedanken lassen sich nicht abstellen. Ich drehe mich alle zehn Minuten von einer Seite zur anderen. Es hilft nichts. Die Gedanken kreisen um das Familientreffen heute Nachmittag, den Zeitungsartikel, den mir meine Mutter gegeben hat, Erlebnisse von vor zehn Jahren, diesen einen peinlichen Moment in der fünften Klasse und auf einmal taucht Elina in diesem Gedankenwirrwarr auf. Wieso denke ich plötzlich an meine Arbeitskollegin, mit der ich erst seit wenigen Wochen das Büro teile? Ich schüttele mich wach. Ich taste nach dem Lichtschalter für die Nachttischlampe und als ich ihn habe, greife ich auf dem kleinen Tischchen neben dem Bett nach dem Artikel und beginne zu lesen.
Das klingt gar nicht schlecht und die Praxis ist wirklich nicht weit von mir. Vielleicht sollte ich es doch mal versuchen?

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