Kapitel 5

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Weihnachten ist vorbei. Jetzt muss ich nur noch Silvester überstehen und dann habe ich wieder meinen gewohnten, tristen Alltag. 

Nach dem Frühstück schaue ich auf mein Handy, um es auf neue Nachrichten zu überprüfen. Nachdem ich das WLAN eingeschaltet habe, ploppen sie auch schon auf dem Display auf. Ich öffne WhatsApp, um sie zu lesen. Elina (1 neue Nachricht). Das ignoriere ich erstmal und beantworte zuerst die anderen Nachrichten. 
Schließlich komme ich nicht drumherum, die Nachricht von Elina zu öffnen. Immerhin wurde sie bereits zugestellt und ich bin gerade online. Was würde sie sonst von mir denken, wenn ich die Nachricht offensichtlich absichtlich ignoriere? Mir fällt keine plausible Erklärung ein, warum ich die Nachricht noch nicht lesen hätte können, also klicke ich darauf. Hallo, ich hoffe, du hast die letzten Tage genossen. Hast du an Silvester schon was vor? Sonst könnten wir gemeinsam feiern. Ich lese die Nachricht noch ein paar mal durch, um ja jeden möglichen Gedanken zwischen den Zeilen zu erhaschen. Anschließend fange ich an zu schreiben: Hi, eigentlich wollte ich bis Silvester bei meiner Familie bleiben. Den Satz überprüfe ich, bevor ich ihn abschicke, noch ein paar mal, so dass keine Rechtschreibfehler drin sind und sich auch die Autokorrektur nicht zu Wort gemeldet hat. Keine fünf Minuten später kommt auch schon eine Antwort zurück: Okay. Falls du es dir anders überlegst, ich bin zuhause. 

Soll ich wirklich nach Hause fahren und dort Silvester verbringen oder doch hier bleiben? Gedankenversunken starre ich aus dem Fenster. Einerseits bin ich gerne bei meiner Familie, gerade jetzt nach der langen Zeit. Aber jedes Mal wenn ich mit Elina schreibe, überkommt mich so ein komisches, warmes Gefühl und ich freue mich darauf, sie bald endlich wieder zu sehen.
Ich merke gar nicht, wie Louis in mein altes ZImmer kommt. Erst als er anfängt zu reden, komme ich langsam zurück in die Realität. »Spielst du mit mir auf der Switch?« Er sieht mich dabei fast flehend an. »Ja, gerne«, stammelte ich noch halb in meine Gedanken vertieft, was auch mein Bruder mitbekommt. »Worüber denkst du nach?« »Erwachsenenprobleme«, redete ich mich heraus. »Geht's um eine Frau?«, bohrt er neugierig nach. Überrascht sehe ich ihn an. »Was? Wie kommst du jetzt da drauf?« Ohne lang zu überlegen, erklärt er seine Frage. »Naja, wenn Erwachsene über irgendwas nachdenken, geht es meistens um die Arbeit oder Beziehungen. Oder Geld.« Das kam unerwartet. Ich weiß überhaupt nicht, was ich darauf jetzt sagen soll. Für seine zehn Jahre hat er das Erwachsensein ziemlich treffend beschrieben. Da ich darüber jetzt nicht reden will - nicht hier, nicht mit meinem kleinen Bruder -, lenke ich das Gespräch zurück auf die Ausgangsfrage und folge Louis ins Wohnzimmer. »Mario Kart? Du weißt aber schon, dass ich darin unschlagbar bin«, lasse ich ihn wissen, nachdem er das Spiel aus dem Regal gezogen hat und es offensichtlich jetzt spielen will. 

Am nächsten Tag

Ich packe meine Reisetasche ins Auto und steige ein. Den ganzen Weg nach Hause plagt mich nur der eine Gedanke: Ist es richtig, heute nach Hause zu fahren? Will ich wirklich Silvester mit Elina verbringen? 

Ich schaue mir nochmal die Webseite des Psychologen, den mir meine Mutter empfohlen hat, an. Schwerpunkt Angststörungen. Was ist Angst? Wie entstehen Angststörungen? Arten von Angststörungen. Soziale Angststörung. Gebannt lese ich jedes Kapitel auf dieser Seite und erkenne mich bei jedem Beitrag ein Stück mehr wieder. Kontakt. Ich klicke auf die Schaltfläche, woraufhin sich eine Seite mit den Kontaktdaten öffnet, inklusive einer Emailadresse. 
Zu gern würde ich eine Email schreiben. Ich weiß, dass es so irgendwie auch nicht weitergehen kann und ich einer Therapie eine Chance geben sollte. Aber wie soll ich das in einer Mail schreiben? Also belasse ich es dabei und klappe den Laptop zu. 

Anschließend greife ich zu meinem Handy und überprüfe auf neue Nachrichten und um mich abzulenken. Soll ich ihr schreiben, dass ich zuhause bin? Oder soll ich mir dieses Hintertürchen offen lassen, um nicht wieder absagen zu müssen, falls es doch nicht klappt? Verdammt, was stimmt bloß nicht mit mir? 
Nach langem Hin und Her schreibe ich ihr schließlich endlich: Hi, ich bin zuhause. Es dauert nicht lange, bis sie die Nachricht gelesen hat und daraufhin antwortet. Toll. Hast du noch Lust auf Silvester? Was mache ich jetzt? Soll ich zusagen? Eigentlich bin ich genau deswegen überhaupt nach Hause gefahren. Aber wenn ich es am Ende doch nicht schaffe, muss ich wieder absagen; und wenn etwas schlimmer ist als eine Verabredung, dann die Verabredung abzusagen. Also sage ich zu, irgendwie werde ich das schon überstehen. Super, das freut mich. Treffen wir uns auf dem Platz, auf dem das Feuerwerk stattfindet? Gegen 22 Uhr? »Ja, passt«, bestätige ich ihr den Treffpunkt.

Jetzt ist es fix und es gibt kein Zurück mehr. Nach einem Blick auf die Uhr schnappe ich mir ein paar bequeme Klamotten und springe unter die Dusche. Ich muss mich etwas beeilen, wenn ich nicht in letzter Minute dort ankommen will. Zwanzig Minuten später bin ich auch schon fertig. Halb Sechs. Ich mache mir schnell eine Pizza warm. 

Gegen 21 Uhr mache ich mich zu Fuß auf den Weg zum Rathausplatz, wo später das Feuerwerk stattfindet. Es ist zwar nicht sehr weit, aber so komme ich rechtzeitig an und habe noch die Gelegenheit, mich auf dem Platz umzuschauen, bevor sich eine riesige Menschenansammlung darauf tummelt. Ich studiere jeden Winkel des Platzes - den Ort der Toiletten, die Ausgänge, wo man einen guten Blick auf das Feuerwerk haben wird und es gleichzeitig nicht zu überladen mit Menschen ist.

Kurz vor der ausgemachten Uhrzeit gesellt sich Elina zu mir. »Da bist du«, stellt sie überrascht heraus, während sie sich neben mich auf die Bank setzt. Anschließend führen wir eine ganz nette Unterhaltung und, zu meiner Verwunderung, fällt es mir ziemlich leicht, mit ihr über alles Mögliche zu sprechen. Ich denke irgendwann gar nicht mehr groß darüber nach, was ich sage. Es fühlt sich einfach richtig an. Nach einiger Zeit steht Elina kurz auf, um paar Minuten später mit zwei Gläsern Sekt zurückzukommen. Wir genießen die restliche Zeit bis zum Countdown des Feuerwerks. Ich erzähle von meiner Familie, sie erzählt von ihrer und wir lachen gemeinsam über die verrückten Dinge, die uns schon passiert sind. Die Zeit vergeht dabei so schnell, dass wir es kaum mitbekommen, dass es bald Mitternacht ist. »8... 7... 6... 5...«, hören wir die Menge rufen. Nur noch wenige Sekunden dauert dieses Jahr. Nur noch wenige Sekunden, bis das erste Jahr ohne Lockdown, Maskenpflicht und Tests beginnt. Es ist das wohl schönste Silvester in meinem Leben. Als der Countdown auf die Null zugeht, beugt sich Elina zu mir rüber, nimmt meine Hand und ehe ich mich versehe, berühren ihre zarten Lippen bereits die meinen. Einerseits bin ich überrascht von dem Moment, andererseits durchströmt ein Glücksgefühl meinen ganzen Körper. Das müssen wohl die berühmten Schmetterlinge sein. Also zögere ich nicht und erwidere den Kuss. Nach dem Feuerwerk unterhalten wir uns auf dem ganzen Weg nach Hause weiter und lachen gemeinsam, bis sich zwei Straßen von meiner Wohnung unsere Wege trennen.
Ich korrigiere: Es ist das schönste Silvester meines Lebens.

Wieder zuhause lasse ich mich überglücklich ins Bett fallen. Lange bleibe ich jedoch nicht liegen und stehe wieder auf, um meinen Laptop einzuschalten. Ich weiß jetzt, wofür ich eine Therapie beginnen will und bin bereit den ersten Schritt zu wagen und Kontakt mit einem Therapeuten aufzunehmen.

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