Kapitel 7

8 2 2
                                    

Heute ist es soweit. Heute Nachmittag treffe ich mich zum ersten Mal mit einem Psychologen, um mit ihm über meine Ängste und die generelle Situation zu sprechen. Ich bin zugegebenermaßen ziemlich nervös. Wie wird das Gespräch ablaufen? Was wird er mich fragen? Es ist zwar nur das Erstgespräch, eine Therapie kann ich also noch nicht erwarten. Dennoch lässt sich das Gedankenkarussell rund um das Gespräch nicht abstellen.

Gegen 15 Uhr mache ich mich zu Fuß auf den Weg in die Praxis des Psychologen, den mir jüngst meine Mutter empfohlen hat. Es sind nur wenige hundert Meter. Ich könnte zwar die S-Bahn nutzen, zu Fuß habe ich aber mehr Zeit, um mich mental auf den Termin vorzubereiten. Die anderen Passagiere im Zug würden meinen Stresspegel nur unnötig noch weiter in die Höhe treiben, als er ohnehin bereits ist.
Als ich vor dem Gebäude stehe, werfe ich einen kurzen Blick auf mein Handy. Die Uhrzeit passt. Ich bin nicht viel zu früh. Anschließend kontrolliere ich das Praxisschild an der Fassade und den Namen an der Klingel, welche ich nach einem letzten Mal Tiefdurchatmen betätige. Umgehend öffnet sich daraufhin die Tür, die ich nun nur noch aufdrücken muss - oder war es ziehen? Na toll. Hoffentlich habe ich sie nicht wieder abgeschlossen. Es wäre zu peinlich, wenn ich noch mal klingeln müsste. Falls ich das überhaupt schaffen würde. Vermutlich würde ich mich schnell aus dem Staub machen, zum Flughafen fahren, dort den weitesten Flug nehmen und im Zielland unter anderem Namen neuanfangen. Aber ich habe Glück und die Tür geht auf.

Etwa eine halbe Stunde lang musste ich einen Fragebogen ausfüllen. Ich dachte schon, der hört nie auf. Doch jetzt habe ich endlich die letzte Seite geschafft und sitze hier im Wartebereich, bis mich der Psychologe wieder hineinbittet. Mit jeder verstreichenden Minute werde ich nervöser. Gedanklich fahre ich die Strukturen an der Wand nach, um mich zu  beruhigen. Als ich mit der Wand fertig bin, zähle ich die Kreise auf dem Teppich und anschließend die Blätter der Pflanzen auf dem Fensterbrett, bis ich schließlich aufgerufen werde.

»Ich habe mir Ihre Antworten aus dem Fragebogen nun durchgeschaut und Ihre Ängste scheinen zum Teil sehr ausgeprägt zu sein«, beginnt Herr Haumann, während er den Papierbogen durchblättert. »Wieso kommen Sie denn ausgerechnet jetzt zu mir?«, richtet er das Wort an mich. Ich überlege kurz, wie ich es am besten erkläre. »Naja, ich hab gemerkt, dass es so nicht mehr weitergehen kann und in den letzten Jahren ist es gefühlt auch schlimmer geworden.« Herr Haumann notiert sich etwas auf seinem Klemmbrett. »Das glaube ich Ihnen. Die letzten Jahre waren wirklich herausfordernd für uns alle.«
Das Gespräch dauert insgesamt knapp zwei Stunden. Der Psychologe stellt mir einige weitere Fragen basierend auf dem zu Beginn ausgefüllten Fragebogen. Ich habe das Gefühl, bei jeder Frage deutlich schlechter abgeschnitten zu haben als der Durchschnitt, aber Herr Haumann gibt mir mit seinen Erklärungen immer wieder die Hoffnung, dass es noch nicht zu spät für mich ist, etwas zu ändern. 
»So, das war's jetzt erst mal von meiner Seite«, beendet er das Gespräch, »haben Sie noch dringende Fragen an mich?« In meiner Nervosität fällt mir zum jetzigen Zeitpunkt jedoch keine Frage ein, also verneine ich seine Frage. »Na, dann verabschiede ich mich bei Ihnen vorerst und wünsche Ihnen alles Gute«, ergreift Herr Haumann erneut das Wort und steht von seinem Stuhl auf. Ich tue es ihm gleich und wir gehen gemeinsam in Richtung Tür. »Abschließend muss ich Ihnen allerdings mitteilen, dass ich gerade keine freien Therapieplätze habe. Ich setze Sie gern auf meine Warteliste, das kann aber trotzdem einige Wochen bis Monate dauern, bis ein Platz frei ist. Ich rate Ihnen daher, sich auch bei meinen Kollegen mal zu erkundigen. Eine Liste mit Adressen gebe ich Ihnen gerne mit, wenn Sie das möchten. Wenn ihre Beschwerden allerdings schlimmer werden oder lebensbedrohlich, können Sie sich selbstverständlich jederzeit bei mir melden.« 

Ich verlasse die Praxis durch die alte Holztür und schlendere gedankenversunken durch die Altstadt bis zu einem nahegelegenen Park mit Seeblick. Ich suche mir ein ruhiges Plätzchen am See und genieße das Rauschen des Baches, der hier in den See mündet. Dieser See ist schon seit Jahren nicht mehr zugefroren im Winter. Dafür war es wie auch heute viel zu warm. So ist es aber gerade der perfekte Ort nach einem anstrengenden Tag wie diesem. Zuhause würde ich mich vor lauter Sorgen und Gedanken verrückt machen. Hier kann ich abschalten und zur Ruhe kommen. Um meine Gedanken beim Abschalten zu unterstützen, hole ich meine Kopfhörer heraus und starte die Musik-App auf meinem Handy. 
Es gelingt mir tatsächlich, soweit zur Ruhe zu kommen, dass ich am Ende eine ganze Stunde auf dieser Bank sitze, ohne es zu realisieren.

Zuhause angekommen mache ich mir eine Kleinigkeit zu essen und setze mich im Wohnzimmer auf das Sofa, um eine Serie zu schauen. Zum Glück ist heute Freitag, so habe ich jetzt nach dem Gespräch zwei Tage frei, bevor ich wieder in die Arbeit muss und kann mehrere Folgen bis spät in die Nacht schauen.


Neustart ins LebenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt