Am nächsten Tag wollte ich meine Wohnung gar nicht verlassen. Sie bot mir Schutz vor dem, was mich draußen erwartete. Oder vor dem, von dem ich glaubte, dass es mich erwarten würde. Wer wusste schon, wie Bones auf mein Verhalten reagieren würde. Ich auf jeden Fall nicht.
Daher zuckte ich jedes Mal zusammen, wenn auf dem Flur vor meiner Wohnung Schritte zuhören waren oder eine Tür laut ins Schloss viel. Ich hatte wirklich Angst.
Zusammengekauert saß ich in einem Sessel am Fenster und schaute hinaus. Die Fassade des Hochhauses gegenüber war gepflegt. Bunte Gardinen hingen vereinzelt in den Fenstern und wirkten freundlich und einladend. Schon häufiger hatte ich zwei Kinder hinter den Scheiben direkt gegenüber herumrennen gesehen und eine junge Frau, die nicht selten etwas gestresst wirkte. Gestresst oder nicht, am liebsten hätte ich mit ihr den Platz getauscht. Alles war besser, als vor Angst in die Wohnung gesperrt zu sein.
Mit einer Hand fuhr ich mir durch die offenen Haare und warf einen Blick auf die Uhr. Zehn vor drei. Ich musste gleich los. Zusammen mit Jona wollte ich Melissa im Krankenhaus besuchen. Doch ich zögerte.
Mein Handy lag in Reichweite und zog meinen Blick an. Es würde nur ein Anruf genügen und ich müsste mein schützendes Heim nicht verlassen. Ich könnte mich hier für den restlichen Tag verkriechen. Niemand würde es stören. Nein, dass stimmte nicht. Jona und Melissa würden sich sorgen. Sie wussten, dass ich nie ein Treffen mit ihnen ohne guten Grund ausfallen lassen würde. Sie würden beginnen, neugierige Fragen zu stellen. Dann musste ich ihnen von Bones erzählen. Doch für diesen Schritt fühlte ich mich - feige, wie ich war, - noch nicht bereit.
Daher rappelte ich mich hoch und verschwand kurz im Bad, um mich frisch zu machen. Beim Verlassen meiner Wohnung war ich auf der Hut. Meine Augen schweiften ruhelos umher, während ich zügig zur U-Bahn lief. Bis ich am Krankenhaus ankam, war ich angespannt, wie ein Flitzebogen. Erst als sich die metallenen Fahrstuhltüren hinter mir schlossen, fühlte ich mich wieder sicher. Ich war allein. Niemand war bei mir. Erleichtert rollte ich mit den Schultern und bewegte den Kopf von links nach rechts. Die Verspannungen im Nackenbereich waren unerträglich.
Viel zu schnell war der Fahrstuhl in der fünften Etage angekommen. Mit einem 'Pling' öffnete sich die Türen. Ein leiser Seufzer verließ meinen Mund und ich trat aus dem Aufzug. Wie letzten Samstag auch, war auf der Station viel los. Es war mal wieder Besuchszeit.
Leise klopfte ich an Melissas Tür und steckte den Kopf hinein. Meine Schwester lag auf der Seite in ihrem Bett und schlief fest. Sie wirkte erschöpft. Tiefe Augenringe zierten ihre Augen und ihr Gesicht wirkte insgesamt schmaler als noch vor einer Woche. Besorgt eilte ich zu ihr ans Bett in der Hoffnung, dass mich nur der Schein trügen würde. Doch auch von nahem sah es nicht anders aus.
„Ihr Zustand hat sich in den letzten Stunden zusehends verschlechtert."
Verzweifelt sah ich Jona an, der auf einem Stuhl neben Melissas Bett saß. „Wie kann das sein? Gestern wirkte Missy so fit, so lebendig wie lange nicht mehr. So schnell kann das doch nicht gehen. Oder?" Beim letzten Wort versagte mir die Stimme und Tränen schwammen in meinen Augen.
Seufzend stand Jona auf, kam zu mir und schloss mich in eine feste Umarmung. Schluchzend klammerte ich mich an sein T-Shirt und presste mein nasses Gesicht gegen seine Brust. Schweigend standen wir eine Weile so da: ich heulend, er mir immer wieder über die Haare streichelnd.
„Der Doc meinte," durchbrach mein Bruder schließlich das Schweigen, als ich mich wieder unter Kontrolle gebracht und mir die Nase geputzt hatte, „dass der Krebs schlimmer geworden ist. Er bittet um Erlaubnis, mit der neuen Behandlung anfangen zu können. Wir müssen uns entscheiden."
Mein Blick schweifte zu Melissa, die in dem großen Bett und dem zu großen Pulli noch abgemagerter, noch kleiner und zerbrechlicher wirkte als sonst. Erst jetzt wurde mir wirklich bewusst, wie sehr doch eine optimistische, freundliche und Energie geladene Einstellung einem zierlichen, kleinen Körper an Größe und Kraft schenken konnte. Es war so ungerecht, dass Melissa so ein Schicksal erleiden musste.
„Lass uns das heute Abend klären." Und nicht hier bei ihr. Jona hörte das Unausgesprochene und nickte bestätigend. Danach verloren wir den ganzen Nachmittag kein Wort mehr darüber. Stattdessen redeten wir über belangloses Zeug und nutzen die Wachen Minuten von Melissa, um sie glücklich zu machen, bevor sie wieder einschlief. Entsetzt stellte ich fest, dass das häufig nach weniger als dreißig Minuten geschah. Sie war am Ende ihrer Kräfte und kämpfte trotzdem noch weiter. Es schmerzte mich, ihr dabei zuzusehen. Ich fühlte mich schrecklich nutzlos, weil ich sah, wie sie sich abmühte, wie sie versuchte stark zu sein und ich ihr dabei nicht helfen konnte. Das Einzige wozu ich in der Lage war, war neben ihrem Bett zu sitzen, ihre Hand zu halten und sie von ihrer Situation abzulenken. Doch war das genug? Für mich nicht. Ich wollte mehr tun, doch mir waren die Hände gebunden. Was sollte ich auch gegen einen Feind tun, der in Missys Körper war. Nichts, rein gar nichts. Und das machte mich fertig. Fix und fertig.
Erschöpft legte ich daher den Kopf an die Fensterscheibe und beobachtete den abendlichen Stadtverkehr. Jona fuhr uns in seinem Auto zu meiner Wohnung. Er würde die Nacht bei mir schlafen, bevor er morgen Melissa noch einmal besuchen und dann zu sich nachhause fahren würde. Das war schon fast zum Ritual geworden, wenn er unsere kleine Schwester besuchte, und ich genoss die Abende mit ihm. Sie waren ruhig, gemütlich und fanden viel zu selten statt.
„Also was machen wir jetzt? Stimmen wir der neuen Behandlung zu oder nicht?" Fragte Jona auf einmal.
Resigniert stieß ich die Luft aus. „Wenn ich das nur wüsste."
„Wir müssen es tun. Es ist die einzige Chance für sie. Alles andere ist nur noch Zeitschändung. Der Doc war in diesem Punkt sehr deutlich."
„Zeitschändung?"
„Ja. Es würde ihre Lebenszeit verlängern, aber nicht den Krebs heilen. Außerdem wäre ihr gesundheitlicher Zustand katastrophal, meint der Doc. Sie würde leben, aber ohne Lebensqualität. Es wäre ein langsames Hinsiechen."
Ich schluckte schwer und musste gegen den Drang ankämpfen, in Tränen auszubrechen. Bilder von meiner kleinen Schwester in grauenhaften Zuständen spukten mir durch den Kopf? Meine arme, kleine Missy.
„Was würdest du vorschlagen?" Fragte ich schließlich, als ich mich wieder beruhigt hatte.
„Wir tun es." Jona klang entschlossen. „Wir zahlen die Kosten der Behandlung in Raten, so können wir jeden Monat von neuem schauen, wo wir das Geld herbekommen."
„Okay."
„Irgendwie werden wir das schon schaffen. Es gibt immer einen Weg. Immer." Das letzte Wort klang so, als müsste er sich selbst überzeugen. Als müsse er sich überzeugen, dass es sich zu kämpfen lohnte, dass wir dieses Problem bewältigen könnten.
Ich griff nach seiner Hand am Lenkrad und drückte sie zuversichtlich. Keine Ahnung wie, aber wir würden das schaffen. Wir würden Melissa wieder Gesund bekommen und die Kosten dafür bezahlen. Daran musste ich einfach glauben, denn andererseits würde es heißen aufzugeben und das, kam auf keinen Fall in Frage.
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Er will sie
RomanceEr will sie? Als Pfand?! Liana ist entsetzt! Aber egal was sie tut, Bones lässt nicht locker. Er dringt in ihr Leben ein, stellt alles auf den Kopf und macht keine Anstalten, je wieder zu verschwinden. Stück für Stück kommt er Liana näher, überwind...