Jahr 350 nach dem Götterkrieg, Spätherbst
Stützpunkt Cruidín, Westfront des Kaiserreichs
Er stand auf, schulterte seine Armbrust und sah sich um. Der Himmel grau und verhangen. Seine Gedanken ebenso. Kalter Nieselregen war nur eine weitere Unerträglichkeit von vielen. Und sein Magen knurrte, um ihn daran zu erinnern. Eine weitere Grube wurde ausgehoben. Ein weiteres Massengrab. Das Schweigen der Arbeit nur unterbrochen von dem gelegentlichen Fluch. Der Regen dämpfte alle Geräusche. Das wievielte war es jetzt? Wollte er überhaupt zählen? Er kannte zu viele Namen, die unter der feuchten Erde vergraben lagen. Möge Naomh Cairistiòna sie leiten.
Die Verluste hatten sich diesmal in Grenzen gehalten. Ein Wunder, in Anbetracht der Tatsache, dass sie seit Wochen, vielleicht Monaten – das Gefühl für die Zeit war trügerisch – ohne General kämpften. Ohne General, ohne Struktur, mit leeren Mägen und schwindendem Willen. In jeder Konfrontation ging es ums Überleben. Welle um Welle liefen die Elfen gegen sie an. Jeden Tag aufs Neue. Sie mussten so verzweifelt sein wie die Menschen, die versuchten, sie aufzuhalten.
Das Hauptlager war als letztes noch übrig. Früher einmal - er konnte sich schon nicht mehr erinnern, wie lange es her war - bestand Stützpunkt Cruidín noch aus einem Vorposten im Norden und zwei im Westen, zudem eine Reihe von Versorgungslagern, die etwa einen halben Tagesmarsch östlich lagen. Sie hatten so lange von keinem der Posten eine Nachricht erhalten, dass sie davon ausgehen mussten, dass das Hauptlager eingekreist war.
Der Mann mit der Armbrust ging über das Schlachtfeld und sammelte so viel Ausrüstung wie er tragen konnte und brachte sie zurück hinter die sicheren Palisaden. Einzelne Panzerteile, Schulterplatten, hier eine Armschiene, da ein Helm; Schwerter - eher selten; eine Axt; drei Pfeile, die noch zu gebrauchen waren.
Es war nicht notwendig, die Rüstungen und Waffen der Gefallenen einzusammeln, es gab noch mehr als genug für die wenigen, die noch kämpfen konnten, aber so hatte er wenigstens etwas zu tun. Diese graue, angespannte Leere, diese öde, nervenzerfressende Langeweile, unterbrochen von kurzen, panischen Kämpfen. Verzweifelten Sprints, Schreien, surrenden Sehnen, Befehlen, Stahl und Blut. Dieser Alltag zerrieb ihm den Geist. Und so warf er die Schwerter, Äxte und was er sonst noch so gefunden hatte zu den anderen Waffen, schob die Bolzen in die Tasche an seinem Oberschenkel und ging wieder hinaus auf den Schauplatz des Gemetzels. Bei jedem Schritt schmatzte der Schlamm aus Blut, Regen und Erde unter seinen Stiefeln. Er ging. Er wollte gehen. Weg vom Lager. Einmal auf freiem Feld stehen, ohne zu kämpfen.
Es war ein grotesker Hohn eines Feldes nach der Ernte. Zerrissene Banner, Speere, Bolzen und Pfeile ragten wie Halme, die dem Gesellen entkommen waren, aus dem Schlamm. Der Wegstein, der die Richtungen nach Andras und Bay'Asin wies, war nicht länger von Bedeutung, seit es keine Straße mehr gab. Mehr als eine Erinnerung im Dreck, die man von den Wachtürmen gerade noch erahnen konnte, war von ihr nicht geblieben. Links und rechts davon Leiber. Elfen. Von Tod und Verwesung entstellt. Von Achtlosigkeit entwürdigt. Wann hatten sie aufgegeben, die Leichen einzusammeln und sie einfach dort, wo sie waren, liegen zu lassen?
Zwischen den metallenen Klauen eines der Elfen sah der Soldat etwas aufblitzen, was ihn zum ersten Mal seit Tagen aus seiner Trance riss. Bei genauerer Betrachtung stellte es sich als Amulett heraus. Vorsichtig bog er die kalten, leblosen Finger auf, um es sich in besserem Licht besehen zu können. Es war ein kleiner Halbmond, aus Hufnägeln geschmiedet, an einem einfachen Lederband.
Als er sich noch über die Bedeutung des Anhängers Gedanken machte - ob persönlich oder religiös - sah er etwas aus seinem Augenwinkel. Nur kurz. Ein Schatten, der über den Morast glitt. Er riss den Blick herum, die Hand an dem Dolch an seiner Hüfte. Doch da war nichts. Irritiert ließ er die Kette in den Dreck fallen. Schritt für Schritt kämpfte er sich durch den Schlamm hin zu dem Baum, an dem er den Schatten zuletzt gesehen zu haben meinte. Die Armbrust in seiner Hand immer fest auf den Stamm gerichtet, bis er plötzlich zu seiner Rechten das schmatzende Geräusch von Stiefeln im Schlamm hörte. Schnell drehte sich der Soldat in die Richtung und zielte auf den Elf, der zu seiner Überraschung nur langsam auf ihn zu schlurfte. Er senkte seine Armbrust und kam seinem Feind entgegen. Er hatte keinen Grund dey zu erschießen, aus deren linken Oberschenkel ragte ein Pfeil und quer über deren Brust zog sich ein klaffender Schnitt. Mehr tot als lebendig war es ein Wunder, dass dey überhaupt noch gehen konnte. Der Schütze würde keinen Bolzen an dey verschwenden. Ein Stoß mit dem Dolch und es wäre vorbei. Es wäre eine Gnade; würde hier draußen doch etwas Menschlichkeit zeigen. Etwas, von dem er gedacht hatte, dass die letzten Monate ihm den Rest genommen hätten. Wer menschlich denkt, zögert und stirbt, hatte ihm ein Kommandant einmal eingebläut.

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Necrosis (Weltentod I) [Deutsch]
FantasiDie Welt liegt im Sterben. Die Bäume verdorren, der Boden wird unfruchtbar und die Toten weigern sich, tot zu bleiben. Wie eine Krankheit breitet es sich vom Westen her aus. Aus dem Eisenwald heraus und über die zentralen Ebenen und die Flusslande. ...