Kapitel 1

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Albus Severus Potter stand auf Bahnsteig 9 ¾ und betrachtete mit leichter Wehmut den Hogwarts-Express. Heute war er zum letzten Mal mit diesem Zug gefahren. Die Schulzeit lag hinter ihm. Und auch die relativ sorglose und bequeme Zeit der Kindheit und Jugend. Er war erwachsen und von nun an musste er sein Leben selbst in die Hand nehmen.

Solange er zur Schule gegangen war, war ihm die Zeit oft endlos vorgekommen und er hatte den Tag kaum erwarten können, an dem er endlich sein Abschlusszeugnis in der Hand halten würde. Nun war es soweit, und die vergangenen sieben Jahre erschienen ihm auf einmal sehr kurz gewesen zu sein. Sieben Jahre. War das lang genug gewesen, um aus ihm einen reifen, verantwortungsbewussten Mann zu machen, der es mit den Anforderungen des Lebens aufnehmen konnte?
Ein wenig zweifelte er daran, aber er wusste, dass er keine andere Wahl hatte, als es heraus zu finden. Ein Zurück gab es nicht mehr, nur noch ein Voran.

„Dauert das noch lange? Ich will nach Hause!", maulte seine kleine Schwester Lily. Seufzend riss sich Albus vom Anblick des Zuges los und drehte sich zu ihr um.
„Na komm schon", sagte er zu ihr. Die beiden hoben ihre Koffer auf und Lily warf ihrem Bruder einen schelmischen Blick zu.
„Wettrennen?", fragte sie.
„Klar", entgegnete Albus und sprintete los.
„Hey, das gilt nicht!", kreischte Lily und rannte hinter ihm her. Aber sein Vorsprung war bereits zu groß, als dass sie ihn hätte einholen können. Er erreichte den Pfeiler einige Meter vor ihr, lief hindurch – und hätte auf der anderen Seite fast seinen älteren Bruder James über den Haufen gerannt.

„Kannst du nicht aufpassen, du Idiot?", blaffte James ihn an.
„Selber einer", erwiderte Albus in brüderlicher Liebe und machte einen schnellen Satz zur Seite. Gerade noch rechtzeitig, denn soeben kam Lilly mit Volltempo durch den Pfeiler. Und ihr gelang, was Albus zu seinem heimlichen Bedauern nicht geschafft hatte: sie prallte gegen James, der dadurch das Gleichgewicht verlor und auf die Fliesen knallte. Auch Lily ging zu Boden.
„Autsch!", jammerte sie. „Kannst du nicht aufpassen, Trottel? Was stehst du mir im Weg?"
„Hallo, gehts noch? Du hast mich doch ..."
„Ach, halt die Klappe."

„Könnt ihr euch vielleicht mal fünf Minuten lang vertragen?", fragte Harry seine Kinder.
„Nein!", lautete die dreistimmige Antwort.
Zumindest in dieser Hinsicht waren sie sich einig.
Harry bückte sich kopfschüttelnd, griff nach Lilys Arm und half ihr hoch. Dann nahm er ihren Koffer und ging Richtung Ausgang. Er warf einen kurzen Blick zurück und fragte:
„Kommt ihr?! Eure Mutter wartet zuhause mit Bergen von Kuchen und Eiscreme."

_ _ _

Albus rührte mit dem Löffel in seinem Eisschälchen. Das Vanilleeis darin war längst geschmolzen. Mit einem halben Ohr hörte er Lily zu, die ihre Eltern über den neuesten Schultratsch in Kenntnis setzte.
„... und dann hat Felicity gesagt, dass Amber gesagt hat, dass Cassy gesehen hat, wie Celia mit Dave geknutscht hat. Dabei ist sie doch mit Perry zusammen. Und dann hat Bernice gesagt, dass ..."
„Schätzchen, alles in Ordnung?"
„Hm?" Albus blickte auf und sah in das besorgte Gesicht seiner Mutter. „Ja, alles gut, Mom. Alles bestens."
Er legte den Löffel zur Seite.
„Ich bin satt. Ist es okay, wenn ich nach oben gehe?"
„Aber du hast ja kaum was gegessen." Das war Ginnys scharfen Augen nicht entgangen.
„Zuviel Süßkram im Hogwarts-Express", redete Albus sich heraus. „Darf ich?"
Obwohl Ginny die Ausrede bemerkt hatte, nickte sie.
„Ja, geh ruhig."

In seinem Zimmer legte Albus sich aufs Bett, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, und starrte an die Decke. Es tat ihm leid, dass er seine Mutter angeschwindelt hatte. Vielleicht wäre es besser gewesen, er hätte ihr die Wahrheit gesagt. Aber dann hätte es wieder eine dieser typischen Potter-Familien-Diskussionen gegeben. Sein Vater hätte zuerst versucht, Verständnis zu zeigen und hätte doch irgendwann los gebrüllt, Albus hätte zurück gebrüllt, und dann hätte seine Mutter alle beide angebrüllt, Lily hätte angefangen zu heulen und James ... ach, wen interessierte schon, was der gemacht hätte?!

Albus wusste, dass sein Vater wollte, dass er sich zum Auroren ausbilden lassen würde. Das kam für ihn allerdings überhaupt nicht infrage.
Sicher, mit einem „Ohnegleichen" in Verteidigung und Verwandlung sowie in einigen anderen Fächern, hätte ihn das Ministerium mit Kusshand genommen, aber Albus wollte nicht Jahrzehnte lang Seite an Seite mit seinem Vater arbeiten.
Seit er begriffen hatte, wer sein Vater war, war er von der Angst besessen, dass die Menschen in ihm immer „nur" den Sohn von Harry Potter sehen würden. Dass er nichts aus eigener Kraft würde erreichen können, dass, egal was er tat, es immer an den Leistungen seines Vaters gemessen werde würde.

Albus wollte sich von dem ständigen Druck, der Sohn des Helden von Hogwarts zu sein, befreien. Er wollte selbständig sein und seinen eigenen Weg gehen, egal, was seine Familie davon halten würde.

Seine Familie?!
Bei Merlins Bart, wenn es sich doch nur auf diese beschränken würde. Aber da waren ja auch noch die besten Freunde seiner Eltern, Ron Weasley und dessen Frau, die Zaubereiministerin Hermine Granger-Weasley. Und auch noch Grandma und Grandpa Weasley. Und alle, alle, würden ihren Senf dazu geben, wenn sie von seinen Plänen erfahren würden.

Albus seufzte, stand auf und holte sich ein Buch aus dem Regal. Er legte sich wieder aufs Bett und begann zu lesen.
Das Buch war in schwarzes Leder gebunden und schon ziemlich alt und abgegriffen. Doch für Albus war es einer seiner größten Schätze.

Früher hatte es Severus Snape gehört. Nach dessen Tod hatte man lange überlegt, was mit seiner privaten Bibliothek geschehen sollte. Schließlich hatte Harry die Bücher an sich genommen und in seinem Verlies untergebracht. Als Albus vierzehn geworden war, hatte er ihm die Bücher geschenkt, als Erinnerung an den Mann, den er selbst zwar nie kennen gelernt hatte, dessen Namen er aber trug und ohne dessen Mut und Klugheit Harry nicht überlebt hätte.

Fast alle Bücher enthielten handschriftliche Anmerkungen des Zaubertränkemeisters. Je länger Albus sich mit ihnen beschäftigte, umso größer wurde sein Respekt vor diesem Mann. Was für ein Genie! Schon als Jugendlicher hatte er mehr von Zaubertränken verstanden, als so mancher Lehrer. Er hätte soviel erreichen können, wenn er die Chance gehabt hätte, sein enormes Wissen entsprechend zu nutzen. Stattdessen hatte er Jahr für Jahr dämliche Schüler dämliche Zaubertränke lehren müssen, streng nach Lehrbuch, ohne die Möglichkeit, jemandem an seinem Wissen teilhaben lassen zu können.
Wäre er in die Forschung gegangen, anstatt den Lehrer und Doppelagenten vor Dumbledores Gnaden geben zu müssen, was für Tränke hätte er entwickeln können! Und Albus war sich sicher: hätte Snape überlebt, hätte er genau das getan. Aber er war gestorben und nun gab es niemanden mehr, der sich für seine Notizen und Träume interessierte.

Niemanden – außer Albus!
Er wollte das Werk seines Namensgebers fortsetzen, alte Tränke verbessern und neue kreieren. Ihm war klar, dass das mit großen Risiken verbunden war, aber als Auror lebte man auch nicht ungefährlicher.

Er ließ das Buch sinken und seine Gedanken wanderten zu einer anderen Freundin der Familie: Luna Scamander, geborene Lovegood. Ihre Mutter war eine Forschungshexe gewesen und bei einem ihrer Zauberexperimente ums Leben gekommen, als Luna noch klein war. Das konnte ihm auch passieren. Die falsche Menge einer falschen Zutat im falschen Augenblick, eine Explosion, tödliche Dämpfe ...
Aber das schreckte ihn nicht. Er war fest entschlossen, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Und notfalls auch gegen den Willen seiner Familie und ganz besonders seines Vaters!

Ein Kessel voller TräumeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt