Kapitel 5

3 0 0
                                    

Albus stand am Ufer eines reißenden Gebirgsflusses und starrte in die Stromschnellen. Hoffentlich würde er hier endlich Erfolg haben. Vier Flüsse hatte er schon aufgesucht, aber nirgends war er auf einen Kelpie gestoßen. Diese Biester waren so selten geworden.

Über der rechten Schulter trug er einen grünen Rucksack. Jetzt nahm er ihn ab, zog den Reißverschluss auf und entnahm ihm ein blaues Seidentuch, das er vor einigen Tagen in der Winkelgasse gekauft hatte. Die Verkäuferin hatte ihn ziemlich merkwürdig angeschaut und Albus wollte gar nicht wissen, was sie über ihn dachte. Dennoch war ein Seidentuch zwingend notwendig, wenn man es mit Kelpies zu tun hatte. Es gab nur zwei Möglichkeiten, sie zu bändigen: indem man sie auftrenste oder ihnen einen Schleier über den Kopf warf. Mit Zaumzeug kannte er sich überhaupt nicht aus, vielleicht hätte er bei „Pflege magischer Geschöpfe" doch besser aufpassen sollen, also blieb nur der Schleier. In diesem Fall musste ein Seidentuch genügen. Aber erstmal musste er den Kelpie auf sich aufmerksam machen. Falls es hier überhaupt einen gab.

„Oje, hier geht's nicht weiter. Ich hatte so gehofft, es gäbe hier eine Brücke. Was mache ich denn jetzt? Ich muss doch dringend ans andere Ufer!", jammerte er künstlich. Okay, dachte er dann, wenn ich ein Kelpie wäre, würde ich auf diesen Blödsinn auch nicht reinfallen. Er wartete zwei, drei Minuten und als sich nicht das Geringste tat, stopfte er das Tuch in seine Jackentasche, setzte er sich den Rucksack wieder auf und drehte sich um. Auf zum nächsten Fluss!

Er war erst ein paar Schritte gegangen, als er vom Ufer ein leises Schnauben hörte. Langsam drehte er sich um.

Wie kann etwas so Schönes so tödlich sein?, war sein erster Gedanke beim Anblick des tiefschwarzen Pferdes, das nah am Ufer im Wasser stand und ihn ansah.
„Nanu, wo kommst du denn her? Du bist ja ein Hübscher", säuselte Albus und ging langsam näher an den Kelpie heran. Dieser schnaubte erneut und warf den Kopf in die Höhe.
„Ruhig, ich tu dir nichts. Ganz ruhig", sagte Albus und blieb stehen, bis das angebliche Pferd sich wieder beruhigt hatte. Erst dann ging er mit ausgestreckter Hand weiter. Der Kelpie legte die Ohren an und wich einen Schritt zurück, schien dann aber Vertrauen zu Albus zu fassen und ließ sich von ihm berühren.

Albus strich ihm durch die Mähne und wollte ihm ein paar Haare ausreißen, aber da machte der Kelpie einen Schritt rückwärts. Er drehte sich um und Albus befürchtete schon, dass er ihn durchschaut hatte und wieder verschwinden würde, aber stattdessen drehte der Kelpie den Kopf in seine Richtung und brummelte wie auffordernd.

„Was hast du? Was möchtest du mir sagen?", fragte Albus. Der Kelpie brummelte nochmal, machte einen Rückwärtsschritt und stand dann ganz still.
„Ah, ich glaube, ich verstehe. Du willst mich ans andere Ufer bringen, was?! Na gut, wenn du das kannst. Ist besser, als hier stundenlang nach einer Brücke zu suchen."

Er trat seitlich an den Kelpie heran, tat so, als wolle er aufsteigen, griff ihm dabei in die Mähne, riss an den Haaren – und im gleiche Augenblick machte der Kelpie einen Satz ins tiefe Wasser und zog den überraschten Albus, der nicht schnell genug reagierte, mit sich.
„Mistvieh! Kannst du nicht warten, bis ich auf deinem Rücken sitzt?", brüllte Albus.
„Das könnte dir so passen! Du wolltest mich, jetzt hab ich dich!", hörte er die tiefe Stimme des Kelpies ohne Umweg über die Ohren direkt in seinem Kopf.

Albus zerrte an der Mähne, um ein paar Haare zu ergattern, aber der Kelpie war nicht dumm und bog seinen Kopf näher zu ihm, so dass das Reißen erfolglos blieb. Und dann ging er auf Tauchstation. Albus holte tief Luft und versank mit dem Kelpie ins kalte Wasser des Flusses.

_ _ _


Tropfnass, ausgekühlt und halb ertrunken rettete Albus sich mit letzter Kraft ans Ufer. Auf allen vieren krabbelte er etwa zehn Meter vom Fluss weg, dann brach er völlig erschöpft zusammen. Er hustete, spuckte Wasser aus und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Schließlich drehte er sich auf den Rücken, lag einfach nur da und schaute in den Himmel.

Was war das denn gerade, dachte er, als er wieder fähig war zu denken. In einem Augenblick hatte er noch gegen den Kelpie gekämpft und hatte es nur unter Auferbietung all seiner Kräfte geschafft, einem tödlichen Biss auszuweichen, während der Kelpie wild mit den Hufen und dem Kopf um sich schlug, war dabei immer tiefer ins Wasser gezogen worden und seine Lungen wären fast explodiert, und im nächsten war da ein greller Blitz gewesen. Er hatte den Kelpie in seinem Kopf laut kreischen gehört und dann hatte das Biest plötzlich von ihm abgelassen und war verschwunden.

Im allerletzten Augenblick war es Albus gelungen, den Kopf über die Wasseroberfläche zu kriegen. Er hatte ein paar Mal krampfhaft Luft geholt und sich dann panisch umgesehen. Aber der Kelpie blieb verschwunden. Dann erst hatte er bemerkt, dass die Stromschnellen ihn mit sich rissen und hatte versucht, irgendwie das Ufer zu erreichen. Zu erschöpft, um kraftvolle Schwimmstöße zu machen, hatte er sich eine Weile einfach treiben lassen, war an mehreren Felsen entlanggeschrammt und erst mehrere Meilen von seinem Ausgangspunkt entfernt nah genug ans Ufer gespült worden, um die restliche Strecke aus eigener Kraft erreichen zu können.

Nie wieder, schwor er sich, nie wieder lasse ich mich auf so etwas ein!
Aber zum Glück war die lebensgefährliche Aktion nicht umsonst gewesen. Albus hob die linke Hand, die zu einer Faust geballt war, vor seine Augen und lächelte. Zwischen den Fingern hingen zwei Mähnenhaare des Kelpie!

Er ruhte sich noch etwas aus, dann stand er auf.
„Was war das bloß für ein Blitz?", murmelte er vor sich hin. Er zuckte mit den Schultern. Was immer es gewesen sein mochte, er hatte jetzt keine Zeit, sich darum zu kümmern. Er musste so schnell wie möglich nach Hause und ein heißes Bad nehmen!

_ _ _

Lacci schlug entsetzt die Hände über dem Kopf zusammen, als sein Herr sich mit letzter Kraft ins Haus schleppte.
„Bi ... bitte .. n ... ni ... nicht sch ... schimpfen", klapperte Albus mit den Zähnen, „hei ... heißes Wasser u ... und n B ... Brandy, b ... bitte!"

Lacci rannte ins Bad und ließ heißes Wasser in die Wanne laufen. Albus war ihm gefolgt und quälte sich aus seinen klatschnassen Sachen. Dann ließ er sich aufatmend ins heiße Wasser gleiten. Lacci lief ins Wohnzimmer zur Hausbar, füllte ein Glas mit Brandy und brachte es Albus.
„Danke", sagte dieser und leerte es mit einem Zug. Er gab Lacci das Glas zurück, lehnte sich in der Wanne zurück, schloss die Augen und freute sich darüber, langsam wieder aufzutauen.

„Lacci!", sagte er zum Elf, der immer noch neben der Wanne stand.
„Ja, Herr?"
„Wenn du in den nächsten Wochen das Wort „Wasser" auch nur erwähnst, röste ich dich über dem offenen Kamin!"

Ein Kessel voller TräumeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt