1. Kapitel -Lotte-

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Der Fenstergriff klemmt. Wie immer. Ich stemme meinen Fuß gegen die Heizung und ziehe mit aller Kraft. Das Fenster geht auf. Wie immer. Die Angst folgt. Ich stehe da wie erstarrt und warte darauf das ich Schritte höre. Laute, grobe, gemeine Schritte. Wie ich diese Schritte hasse. Aber es kommen keine Schritte. Auch wie immer. Ich steige aus dem Fenster. Mein Nachthemd flattert im leichten Wind. Ich laufe über den Rasen. Er kitzelt meine nackten Füße. Ich fange an zu rennen, laufe so schnell ich kann, spüre ein Ziehen in der Brust, fühle mich frei. Die Straße ist noch warm von der Sonne. Meine Haare wehen im Wind, der Mond scheint, ein kleiner Vogel singt, meine Füße fliegen nur so über die Straße und vor mir, auf dem grauen Teer, sitzt ein kleines dreckiges Kind. Nicht wie immer.

Ich stoppe. Wäre ich ein Auto würden meine Bremsen jetzt laut quietschen. Das Kind reagiert nicht. Es hebt weder den Kopf noch sieht man das es atmet. Aber es sitzt da, also ist es nicht tot. Ich atme auch nicht, halte einfach die Luft an, versuche mich nicht zu bewegen. Aber ich bin nicht das Kind, meine Lunge braucht Luft. Ich sauge sie in mich hinein, drehe mich um und laufe weg.

Es sitzt immer noch da. Was heißt immer noch, wahrscheinlich wieder, aber trotzdem.

Es ist Nacht. Diesmal scheint der Mond nicht, Wolken sperren ihn und die Sterne aus. Oder sperren sie uns ein? Egal.

Die Straße ist klein und hat extrem viele Schlaglöcher. Sie ist links und rechts von Bäumen gesäumt. Aber die sind verkrüppelt. Wurden letztes Jahr einfach gestutzt. Jetzt sind es nur noch pummelige Stämme mit kleinen Zweigen, die in alle Richtungen abstehen. Sieht verdammt blöd aus, finde ich. Dahinter kommen nur noch Wiesen. Rechts und links. Es sieht so aus als würden sie niemals aufhören, als wäre die ganze Welt eine einzige Wiese. Aber die Leute sagen die Welt sei keine Wiese.

Es kommt Wind auf. Das Nachthemd flattert um meine Beine. Die Wiesen sehen aus wie ein graues wogendes Meer. Alles ist so weit, so frei und mitten in dieser endlosen Landschaft, auf dieser kleinen kaputten Straße, sitzt ein kleiner Haufen Mensch. Ganz alleine.

Dann fängt es an zu regnen. Warmer Nacht-Sommerregen. Als ich mich umdrehe und wegrenne merke ich, dass ich wieder die Luft angehalten habe.

Meine Füße sind nass und braun als ich zum dritten Mal bei dem Kind ankomme. Mein Nachthemd ist wahrscheinlich auch nicht mehr so weiß. Es waren viele Pfützen auf dem Weg.

Ich setze mich hin. Genau vor das Kind. Es reagiert nicht. Ich wedle mit meiner Hand vor seinem Gesicht herum. Es reagiert nicht. Ich schreie. Es reagiert immer noch nicht.

Das Kind sieht aus als wäre es aus Wachs. Aber nicht aus festem. Es ist geschmolzen. In sich zusammengesunken. Ganz tot.

Ich schreie nochmal. Es macht die Augen zu. Und ich bin sofort leise. Jetzt sitzt es da, die Augen geschlossen. Sein Gesicht ist schön. Ziemlich dreckig. Die Haare sehen im dunkeln aus wie flaumige Federn. Am liebsten würde ich sie anfassen, sie sehen so weich aus!

Ich bin frustriert. Das Kind soll sich bewegen und mit mir reden. Über was würde es wohl reden? Ob es mir erzählen würde warum es hier auf der Straße sitzt? Aber würde ich das überhaupt wissen wollen? Vielleicht möchte es dann wissen warum ich hier bin. Würde ich ihm aber nicht erzählen. Vielleicht ist es doch besser wenn es nicht redet.

Ich stehe wieder auf, schaue auf den kleinen Mensch hinunter, überlege lange und setze mich wieder hin.

Man hört sehr viel wenn man leise ist. Eigentlich alles. Man hört das Rauschen der Autos, die nachts über die Autobahnen rasen. Man hört Tiere. Und man hört die Luft. Aber nur wenn man genau hinhört.

Und ich sitze.

Und sitze.

Und sitze.

„Verdammt!" Brülle ich.

Und dann bin ich wieder still, denn das Kind, vor mir auf der Straße, fängt an zu reden.

Ein KindWo Geschichten leben. Entdecke jetzt