4. Kapitel

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Ich sitze vor dem Kind auf der Straße. Es hat aufgehört zu reden. Zum zweiten Mal. Ich weiß nicht was es erzählt. Oder von wem. Aber es kann reden. Sehr gut sogar, dafür habe ich ein Gefühl. Ich liebe Worte.

Der Himmel über uns ist pechschwarz. Ein zarter Wind weht. Und es ist August.

Wie lange ist das Kind wohl schon hier? Vielleicht war es ja schon immer da und ich habe es nur nicht gesehen? War ich zu blind? Ich könnte es Fragen. Ich hätte viele Fragen. Aber es würde nicht antworten.

Ich sitze vor dem Kind auf der Straße. Ich starre es an, es starrt zurück. Aber ich glaube nicht, dass es mich sieht. Irgendwo hinter mir, wird etwas sein, von das es nicht die Augen lassen kann. Irgendwo. Wenn man etwas unbedingt sehen will, sieht man es auch, egal was zwischen dir und diesem Etwas ist.

Ich stehe also auf und laufe weg. Zu dem geschnittenen Rasen und dem klemmenden Fenster.


Das Tier streunte herum. Leise wie eine Katze lief es am halb zugefrorenem Kanal entlang. Es war mitten am Tag, aber kein Mensch war draußen unterwegs. Es war zu kalt. Dem Tier war ein dickes warmes Winterfell gewachsen. Das Fell beschütze es, nicht nur vor der Kälte.

Die Bäume am Wasser glichen Skeletten. Aber sie waren nicht nackt. Auf ihren zitternden Ästen türmte sich der Schnee. Wenn es doch den Frühling erleben würde. Es würde so gerne die Bäume wieder leben sehen. Diese Freude spüren, die einen überfällt, wenn die Sonne das erste mal ihre Wärme mit einem teilt. Wie gerne würde es die Vögel hören. Aber es war Winter. Tiefer Winter. Der Kanal war bald vollständig zugefroren. Aber es würde niemand darauf Schlittschuhlaufen. Die Welt war tot.

Die Katze sprang leichtfüßig über einen kleinen Zaun und tapste durch den hohen Schnee zum Wasser. Ob es kälter war als der Schnee? Vorsichtig streckte sie eine Pfote nach vorne. Als sie das Wasser berührte zuckte sie zurück.

Eh, Schätzchen! Das würd' ich lieber lassen. Da frierst du dir nur die Pfoten ab."

Die Katze fuhr herum. Ihr Körper war steif wie ein Brett. Ihre Schnurhaare zitterten vor Anspannung.

Aus einem der Büsche, neben dem Wasser, kam ein Mann. Er torkelte.

„Was machste denn da, eh?"

In diesem Moment rannte die Katze davon.


Der Mond scheint hell. Zu hell. Irgendwie stört er mich. Vielleicht geht es dem Kind genauso. Es hat nur sehr kurz geredet.

Ich fröstele. Die kleinen blonden Härchen auf meinen Armen stellen sich auf. Es wird immer kühler. Was macht das Kind hier? Warum zum Teufel ist es so alleine? Und woher kommen diese Worte die es jede Nacht erzählt? Sind sie für mich bestimmt? Weiß es überhaupt, dass ich da bin? Irgendwann, denke ich. Irgendwann werde ich es fragen. Aber noch nicht jetzt, erst will ich das Ende der Geschichte hören.


Vielleicht, dachte die Katze, darf ich nicht mehr davonlaufen. Nicht vor allem und jedem. Nur vor Hunden. Aber woher sollte sie wissen, wer ein Hund war?

Wenn niemand sie sah, schlüpfte sie durch Türen. Durch Kaufhaustüren, in Treppenhäuser...

Es war zu kalt geworden, sie konnte die Menschen nicht mehr meiden. In den Kaufhäuser wurde die Katze unsichtbar. So merkte niemand, wenn etwas fehlte. Und wenn doch, immer zu spät. Satt wurde die Katze aber nie.

Alle Pflanzen starben. Die Sonne schien ohne jede Kraft. Die Katze musste durchgängig in Bewegung bleiben. Sonst wäre sie erfroren. Einfach so. Sie spielte gerne mit diesem Gedanken. Sie hatte die Macht und das gefiel ihr.


Als die Katze wieder herumlief, immer darauf bedacht, nicht zu sehr im Schnee einzusinken, passierte etwas. Sie traf jemanden. Und sie lief nicht davon.

Auf dem Bürgersteig, unter einer überdachten Tür, auf mindestens drei Decken, saß der Mann. Seine Hand klammerte sich krampfhaft an einer leeren Bierflasche fest. Es sah so aus, als ob er sich an ihr festhalten würde, fand die Katze. Sie stand direkt vor ihm und schaute in sein Gesicht. Seine Haut sah aus wie graues, zerknittertes Papier. Nur seine Nase war ein bisschen rot. Die Lippen waren angeschwollen und blau. Das linke Auge schielte ein bisschen nach außen. Das andere starrte die Katze an. Aber es sah sie nicht. Er nahm sie überhaupt nicht wahr. Er schlief mit offenen Augen. Die Katze näherte sich den Decken ein wenig. Zögerte. Dann setzte sie sich vorsichtig neben den Mann. So saßen sie lange Zeit da, zu zweit und doch alleine. Nebeneinander. Für die Menschen die an ihnen vorüberliefen, waren die beiden unsichtbar.

Als es dunkel wurde, ging die Katze. Leise verabschiedete sie sich von dem Mann, der ins nichts starrte. Dieser blieb stumm.


Ein KindWo Geschichten leben. Entdecke jetzt