5. Kapitel

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Ich friere. Der Winter, von dem das Kind schon so lange erzählt, ist nun auch hierher gekommen. Er angelt sich von Baum zu Baum, frisst sich in den Boden und lässt ihn hart werden. Morgens ist die Welt von einem glitzernden silbernen Schleier überzogen. Es sieht wunderschön aus. Das Gras. Alles das, um uns herum. Aber die wenigsten sehen es. Die meisten Menschen laufen mit zwei geschlossenen Augen durch die Gegend. Sie gucken nicht nach rechts, nicht nach links, nicht mal geradeaus. Sie sehen nur eins: sich selbst und ihre Probleme. Ich frage mich ob ich zu diesen Menschen gehöre.

Ich glaube das Kind hat Angst. Es hat Angst davor das dieser Winter so wird wie in seinen Geschichten. Unendlich. Aber das kann nicht sein. Der Winter kann nicht ewig da sein. Irgendwann kommt immer der Sommer. Glaube ich zumindest.

Dann stehe ich auf.

„Du, es wird wieder Sommer, keine Angst!"

Meine Füße sind taub, als ich Zuhause angekommen bin.


Als die Katze aus der Tür huschte war ihr zum ersten mal seit langer Zeit nicht mehr kalt. Die Welt hatte einen kleinen Löffel Freundlichkeit geschluckt. Er hatte geschmeckt. Die rosa Pfoten liefen durch den Schnee. Zielstrebig. Anders als sonst. An ihrem Ziel angekommen blieben die Pfoten stehen.

He? Du? Was,n...Ne! Ne Schätzchen, dass kann ich nich annehmen!"

Die Katze hatte Angst. Schreckliche Angst. Aber sie durfte nicht wegrennen. Nicht noch einmal. Vorsichtig schob sie die Bierflasche über den vereisten Bürgersteig. Der Mann zögerte. Dann schnappte er sich die Flasche und rückte ächzend ein Stück zur Seite. Eine kleine Ecke Decken war jetzt frei.

„Hier, wenn du schon so freundlich bist und nem' alten Mann was zu saufen gibst, kannste auch hierbleiben. Wenn du willst natürlich. Na komm. Seh' zwar so aus, aber dich beiß ich nich, versprochen!"

Die Katze setzte sich. Zum zweiten Mal. Für den Mann war es das erste Mal. Dann sagte keiner mehr etwas. Der Mann kramte ein Feuerzeug aus seiner Tasche und öffnete das Bier. Dann trank er die Flasche ohne einmal abzusetzen leer. Rülpste. Eine Frau, die auf dem Bürgersteig entlanglief drehte sich empört um. Als sie sah woher das Rülpsen gekommen war drehte sie sich angewiedert um und lief weiter. Einfach so.

Und die Katze fing an sich zu verwandeln. Sie wurde zu dem Kind, das sie gewesen war, unter dem Tisch auf dem Grünstreifen, auf der neon orangenen Decke. Es hockte neben dem Straßenpenner und spürte etwas, das es schon lange nicht mehr gespürt hatte. Menschlichkeit. Es war wieder ein Mensch.

Der Mann rülpste nochmal. Die Mundwinkel des Kindes zuckten nach oben. Dann kullerte ein perlendes helles Lachen aus ihm heraus. Es lachte all das, was es erlebt hatte auf die Straße, den Passanten vor die Füße.


Zwischen dem Kind und dem Mann entwickelte sich etwas. Eine wortlose Freundschaft. Sie rankte zwischen den beiden, wie Efeu an einem Baum. Verworren. Unklar. Aber für eine kurze Zeit wunderschön.


Ein KindWo Geschichten leben. Entdecke jetzt