Es ist heiß. Sogar nachts. Mir laufen kleine Schweißperlen über die Stirn, rollen wie Regentropfen an einer Autoscheibe langsam meine Schläfen herunter. Die Straße ist warm. Die Luft stickig. Es ist ein bisschen so, als wäre zu wenig davon da, als würde man stattdessen einfach nur Wärme einatmen. Ich höre meinen hechelnden Atem. Ich höre ihn, so, als würde jemand anderes neben mir herlaufen.
Ich springe über die kleine frisierte Hecke und laufe auf dem peinlich genau geschnittenen Rasen zu meinem Fenster.
Mit der Zeit veränderte sich das Kind. Es wurde noch leiser, noch kleiner, noch weniger Kind als es vorher gewesen war. Es war einsam. Sehr einsam. Es war da, aber niemand wusste es. Manchmal fragte es sich ob es tot war. War es gestorben, ohne es zu merken? Hatte es aufgehört zu existieren? Vielleicht tut man das ja wenn keiner von einem weiß, dachte das Kind.
Aber es hatte noch nicht aufgehört zu existieren. Noch nicht.
Die Einsamkeit machte das Kind traurig. Es redete nicht. Es dachte nach. Und zu viel Nachdenken macht traurig. Die Welt wurde leiser und leiser. Die Geräusche um es herum lauter und lauter. Bei jedem knackenden Ast zuckte es zusammen. Der Schrei eines Vogels brüllte so in seinen leeren Ohren, dass es jedesmal verschreckt unter seinen Tisch huschte. Das graue eingefallene Gesicht war wie gelähmt, es regte sich kein einziger Muskel. Nur bei Nacht. Die kurzen Phasen in denen es schlief, waren die einzigen Augenblicke wo es Laute von sich gab und sein Gesicht zu ängstlichen Fratzen verzog.
Wenn das Kind aufwachte, fühlte es nichts mehr. In solchen Momenten wäre es wohl am schönsten gewesen einfach liegen zu bleiben. Einfach einzuschlafen und nie wieder von Alpträumen geplagt zu werden. Doch es muss etwas in dem Kind, unter dem Tisch auf der neon orangenen Decke, gewesen sein, dass es immer wieder kämpfen ließ.
Irgendwie schaffte es seine Arme zu bewegen. Irgendwie wuchtete es seinen tauben Körper nach oben. Dann fing es an zu laufen. Erst langsam und holprig, dann immer schneller. Zum Schluss lief es, so schnell es konnte. Es versuchte davon zu laufen. Vor was es davonlief wusste es selbst nicht genau. Aber es wusste das es niemals entkommen würde, wie schnell es auch rannte.
Oft wachte das Kind mitten in der Nacht auf und schlief nicht mehr ein. Dann lief es mehrere Stunden durch das Dunkel der Nacht. Menschen traf es nie. Aber das wollte es auch gar nicht. Tagsüber legte es sich unter seinen Tisch und rollte sich in das orange ein.
Betteln tat das Kind nicht. Es klaute auch nicht. Es lief, um nicht zu sterben. Immer den Grünstreifen hoch und dann wieder runter. Immer wieder. Und wieder. Es wurde dünner, aber das merkte es nicht. Eigentlich merkte es gar nichts. Es war, als wäre eine Knospe aus Eis in seinem Herz gewachsen, die immer größer und größer wurde und ihre eisige Kälte durch jede kleine Ader schickte, um sein Blut gefrieren zu lassen und seinen Körper langsam zu betäuben. Diese Knospe war viel kälter als der Winter, außerhalb seines Körpers.
Am vierten Tag fing das Kind an Schnee zu essen. Er war in der Nacht gefallen und hatte sich in seinen dichten braunen Wimpern verfangen. Aber es war kein weißer Schnee. Er war braun. Braun, von den Autos überfahren und zermatscht. Und Rot. Rot, von den Silvesterknallern, die das Kind so fürchtete. In all diesem braun und rot leuchteten gelbe Löcher. Hunde. Gesehen hatte es sie noch nie, bis zu diesem einen Morgen.
Es war noch dunkel. Am Himmel zeigten sich die ersten rosa Streifen. Die Sonne würde scheinen. Es würde kalt werden. Es war kalt. Aber der kleine Haufen schlief. Eingewickelt in das neon orange. Ein mittelgroßer Hund, sein Fell war nicht mehr ganz weiß und seine rosa Schnauze sah etwas erfroren aus, lief, mit dem Schwanz wedelnd, auf den Tisch zu. Vorsichtig schnuppernd näherte sich die Schnauze dem orangenen Bündel. Der Schwanz des Hundes erschlaffte. Dann fing er an zu bellen. Laut und heiser, kleine Eiskristallwolken in die erfrorene Luft spuckend. Aus einiger Entfernung hörte man eine Frauenstimme. Der Hund bellte weiter. Die Decke zuckte zusammen. Der Hund bellte weiter. Die Frauenstimme wurde lauter. Der Hund blieb. Die Fließdecke zitterte nun. Man hörte Schritte, die durch den Schneematsch angelaufen kamen. Dann angestrengtes atmen.
„Hey, Ivy komm her!"
Das Kind hörte wie die Frau scharf die Luft einsog.
„Was...?"
Der Hund hörte auf zu bellen und lief zu der Frau. Die rosa Nase voller Blut.
„Oh Gott..."
„Wuff"
„Was ist das Ivy?" Ihr Blick wanderte zu dem eingewickelten Kind.
„Wruaff"
„Scheiße!"
„Wruff"
Langsam näherte sie sich dem Tisch. Dabei flüsterte sie durchgehend irgendwelche Worte. Sie passten überhaupt nicht zusammen, fand das Kind.
Sie wollte das Ding unter dem Tisch nicht erschrecken, falls es noch lebte. Oder je gelebt hatte. Ganz vorsichtig legte sie die Hand auf das knallige etwas. Die Decke blendete immer noch, obwohl sie schon völlig verdreckt war. Die Frau spürte wie es unter ihrer Hand zitterte. Sie unterdrückte einen Aufschrei. Es kostete sie unglaublich viel Überwindung die Hand nicht sofort wieder weg zu ziehen. Es lebte also wirklich. Und es stank. Aber nicht nach Tier. Erst jetzt sah sie das aus der Decke braune verfilzte Haare hervorlugten. Zögernd, den Atem anhaltend zog sie Stück für Stück die Decke nach unten. Das Flüstern war auf ihren halb geöffneten Lippe gestorben.
Unter der Decke vollzog das Kind seine zweite Verwandlung. Es konnte nicht mehr denken. Sich nicht mehr bewegen. Sein ganzer Körper zitterte unkontrolliert. Das Kind verwandelte sich zu einem, in Panik geratenen Tier.
Die Frau stand auf. Sie bewegte sich so, als hätte sie ein wildes Tier vor sich, dass nicht erschreckt werden durfte. Dann nahm sie ihr Handy aus der Hosentasche und wählte die Nummer der Polizei. Das Blut an der Nase ihres Hundes ließ ihre Hände zittern. Sie hatte keine Verletzung im Gesicht des Kindes gesehen. Sie hatte aber auch nicht genau hingucken können. Wenn es ernstahft verletzt war, wenn der Hund es verletzt hatte.
Die Polizei wollte sofort kommen, um sich selbst ein Bild von der Situation zu machen. Ob sie sich um das Kind kümmern würden? Würde es in ein Kinderheim kommen? Wie kam es überhaupt, das ein Kind, völlig alleine, auf einem Grünstreifen lag? Der Hund riss sie aus ihren Gedanken. Er nieste zweimal. Dabei schleuderte er vier Blutstropfen in den Schnee. Die Frau lachte vor Erleichterung auf. Das Blut hatte nichts mit dem Kind zu tun, der Hund musste sich irgendwo die Nase zerkratzt haben.
In diesem Moment rannte das verschreckte Tier davon. Es jagte über den Mittelstreifen. Weiter und immer weiter. Schneller und schneller. Und es blieb nicht stehen. Es ließ die Frau zurück. In der rechten Hand hielt sie noch ihr Handy. Der Hund bellte zweimal. Dann war es still.
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Ein Kind
Teen FictionMeine Haare wehen im Wind, der Mond scheint, ein kleiner Vogel singt, meine nackten Füße fliegen nur so über die Straße und vor mir, auf dem grauen Teer, sitzt ein kleines dreckiges Kind. Ist es normal, wenn man nachts auf der Straße ein Kind findet...