7. Kapitel

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Meine nackten Arme sind weiß. Mein Atem kommt stoßweise und lässt kleine Wolken in der eisigen Luft explodieren. Um mich herum ist alles kahl. Kahl und grau. Schnee gibt es noch keinen. Aber die Leute haben gesagt es würde jeden Moment so weit sein.
Jedesmal wenn meine Füße den Boden berühren habe ich das Gefühl ich würde auf heißen Nägeln laufen. Ich renne so schnell ich kann.
Als ich ankomme ist nichts wie immer. Das Kind ist weg.
Verdammt.
Verdammt.
Verdammt.
Wo ist es? Panik flattert in meiner Brust, es fühlt sich an wie ein gefangener Vogel der panisch einen Ausweg sucht. Aber den gibt es nicht, denke ich intuitiv. Alle Türen sind verschlossen, das Dahinter unergründlich. Es ist nicht weg, geht gar nicht, ein Mensch kann nicht einfach so verschwinden.
Es hatte einen Tag Zeit und woher willst du wissen das es ein Mensch war?
Weiß ich nicht. Ich weiß gar nichts. Ich wollte es fragen. Habe ich das Ende der Geschichte verpasst?
Es gibt kein Ende, irgendwas ist immer da. Es ist aber nicht da, wo ist das Kind? Ich brülle. So laut ich kann, in die kalte Nacht. Die Wiesen rechts und links wurden im Herbst gemäht. Jeder einzelne Grashalm geköpft. Ich wette sie hat niemand gefragt. Warum auch? Hätte aber jemand tun sollen! Ich habe nicht gefragt, und jetzt ist es weg. Einfach weg. Und plötzlich zieht die Angst in meinen Körper ein. Sticht. Ich schließe die Augen. Ich will es nicht finden, will das graue flaumige Haar nicht sehen. Und die langen Wimpern und die dunklen schönen Augen auch nicht. Bloß nicht, nie, nie wieder!
Ich stolpere rückwärts, meine Augen geschlossen. Ich werde sie nicht mehr öffnen. Blind laufe ich die Straße zurück, ich kenne den Weg. Wasser sammelt sich hinter meinen Augenlidern, ich kneife sie so fest zusammen wie ich kann. Ich bin so ein Mensch. Ein Mensch der nur sich und seine Probleme sieht. Ein blinder Mensch. Wortwörtlich. In meinem Magen tobt ein Schneesturm. Ich übergebe mich stumm in den nächsten Mülleimer. Ich bin nicht nur blind, ich bin auch taub. Es hat mir seine Geschichte erzählt. Auch das Ende. Das Kind ist das Kind. War. Die Katze, das Tier. Und es ist weg. Tot. Erfroren. Es wusste es, ich aber nicht. Ich hätte es einfach mitnehmen müssen. Ich hätte es retten können.
Verdammt.

Ungefähr zwei Jahre danach war ich das letzte mal an dieser Stelle. Ich war jede Nacht da, hatte insgeheim noch immer Hoffnung. Vielleicht. Aber dieses hoffnungslose Vielleicht wurde nie Realität. Aber was ist das schon, Realität? Vermag das irgendwer zu sagen? Ich nicht. Und deswegen weiß ich auch nicht, ob es das Kind, auf der grauen, mit Schlaglöchern übersäten Straße, jemals gegeben hat.

Ein KindWo Geschichten leben. Entdecke jetzt