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„Du bist ihr nie begegnet, aber du hast... die ganze Zeit gewartet?"

John senkt den Blick. Er fühlt sich schrecklich. Ist Nathan böse? Will er... Will er, dass John Esra einfach vergisst? John weiß, das kann er nicht, egal, wie gerne er das würde.

Im Grunde ist das hier doch der Grund, aus dem er es geheim halten wollte. Jemand, der sein Leben lang weiß, wer für ihn bestimmt ist, aber nach der Person nicht aktiv sucht, der lädt zu neugierigen Fragen schließlich ein. Jemand, der genug an das Schicksal glaubt, um auf eine natürliche Begegnung zu hoffen, und es dann hassen lernt, weil sie sich einfach nicht ereignen soll.

„Und was, wenn das Warten dich davon abhält, jemanden kennenzulernen, der die Verbindung darstellt zu der Person, die du suchst?"

Irritiert blickt John auf. Er hat Fragen erwartet, um wen es gehe, ob er die Person kenne, wieso er nicht suche. Oder Vorwürfe, dass er nicht alle von sich stoßen könne, leben müsse, seine romantischen Hoffnungen zurückschrauben. Stattdessen ist Nathan ruhig und pragmatisch. Sein Einwand klingt nicht, als wolle er sich in Johns Angelegenheiten einmischen. Eher, als untersuche er die Materie aus rein wissenschaftlichen Beweggründen.

„Meine Mutter...", beginnt er dann, was John angesichts ihres Kennenlernens kurz schmunzeln lässt. „Sie wusste schon, dass sie und Seb zusammengehören, da war sie gerade erwachsen geworden. Sie hat in dem Café, in dem sie gearbeitet hat, immer wieder den gleichen Kunden getroffen, aber er hatte einen anderen Namen. Sie wollte lange nicht mit ihm ausgehen, weil sie auf Seb wartete, aber dann hat sie sich überreden lassen. Wenn sie ihn nach seinem Nachnamen gefragt hätte, hätte es sicher nicht so lange gedauert: Der Mann starb kurz nach ihrer Hochzeit und hinterließ ihr nur ihren gemeinsamen Sohn."

John verzieht das Gesicht. An sich ist das eine der Geschichten, die ihm gefallen könnten. Sie klingen romantisch und schicksalhaft und nach genau dem, was diese Seelenverwandtschafts-Sache an Gutem hervorbringen kann. Doch dass Nathan diese Geschichte erzählt, macht John traurig. Nathan, der zu Beginn fast ironisch vorgegeben hat, seine Mutter sei seine Seelenverwandte. Es war ernüchternd, zu hören, dass diese ihre Seelenverwandtschaft in Nathans Bruder (oder allem Anschein nach seinem Halbbruder) gefunden hatte, und es erklärte doch auch dessen Abneigung gegen das Prinzip.

John hatte es kaum ertragen, wie sehr seine Eltern einander geliebt hatten. Einander so viel inniger als ihre Kinder. Die Vorstellung aber, eines seiner Elternteile hätte seine Schwester derart offensichtlich mehr geliebt als ihn, ließ wesentlich tiefere Verletztheit erahnen.

„Das tut mir leid.", entfährt es John, ehe er verarbeiten kann, was Nathan mit dieser Geschichte sagen möchte: Dass John aufgrund seiner Engstirnigkeit die Gelegenheit verpassen könnte, Esra überhaupt erst kennen zu lernen. Vielleicht ist nicht ausgerechnet Nathan der Weg dorthin, doch öffnet John sich nicht für seine Möglichkeiten, kann er vielleicht niemals der Person begegnen, die für ihn bestimmt ist.

„John..." Als sich ihre Blicke begegnen, kann John sehen, wie eine Welle der Erkenntnis durch Nathan hindurchschwappt. Es ist sonderbar, wie er ihn ansehen und ihn lesen kann. Wie er immer auch sich selbst in dem schönen Mann sieht, obwohl sie einander nicht besonders ähnlich sind. Es ist ungerecht, dass er die stärksten Gefühle für diesen Mann spürt, die er je gefühlt hat, und dass er doch nicht der ist, für den er sie fühlen soll.

Nathans Lippen teilen sich und Aten entweicht ihm hauchzart. Er streckt die Hand aus, umfasst Johns rechten Arm, über dem Pullover, den er trägt. „Es... Was... Was ist schon ein Name, oder?", sagt er dann. Seine Finger packen ihn noch ein wenig fester, sein Blick bohrt sich flehentlich in Johns.

Fast kommt es John vor, als bettle Nathan um eine Chance. Als sehe er ein, dass John seiner vernünftigen Argumente nicht zugänglich ist, und wolle auf diese Weise erreichen, dass er nachgebe, sich ihm öffne. Aber John weiß, dass mehr dahintersteckt, dass Nathan ihm etwas sagen will.

„Kann es uns nicht egal sein, wer Esra Carlton ist? Lass uns... Lass uns jetzt glücklich sein. Miteinander. So lange, wie uns das vergönnt ist."

VorgeschriebenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt