Grace

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Alleine sitze ich auf der Couch in einer Art Warteraum im Justizgebäude. Die Couch ist mit Samt bezogen und die Einrichtung ist insgesamt sehr edel. Die Tür wird von einem Friedenswächter geöffnet und meine Eltern kommen rein. „Nur 5 Minuten“, sagt er und schließt die Tür dann wieder.

Mum scheint den Tränen nahe zu sein, Dad bemüht sich die Fassung nicht zu verlieren. „Ach Süße“, murmelt Mum und streicht mir mit der Hand übers Haar. „Warum hast du nicht zugelassen, dass sich jemand freiwillig meldet?“ Ja, warum nicht? Ich hätte noch drei Jahre trainieren und mich dann freiwillig melden können, aber mein verdammter Stolz…

Etwas beschämt senke ich den Kopf. Mein Dad lacht kurz. „Ja, den Stolz hat sie von dir“, flüstert meine Mum eher zu sich selbst. Er nimmt meine Hand und sieht mir in die Augen. „Du kannst das schaffen, ok? Du bist stark genug um sie alle zu schlagen“, sagt er und seine eindringliche, ernste Stimme halt noch einen Moment in meinem Kopf nach. „Wir wollen schließlich nicht unsere Tochter verlieren.“ Jetzt rinnt Mum doch eine Träne die Wange hinunter. Hastig wischt sie diese weg. „Ich werde wiederkommen. Darauf könnt ihr euch verlassen.“ Sosehr ich mich auch bemühe meine Stimme fest und sicher klingen zu lassen, sie zittert trotzdem. Mein Mittribut ist Cato und die Tribute aus Distrikt 1 kenne ich noch gar nicht. Wie hoch stehen meine Chancen da wohl?

Mit einem leisen Schluchzer fällt Mum mir um den Hals und lässt mich nicht mehr los, bis Dad ihr eine Hand auf die Schulter legt. „Es ist Zeit zu gehen, Kleo“, teilt er ihr behutsam mit.

Dads Umarmung fällt deutlich kürzer aus, nicht zuletzt, weil sie gehen müssen. Zum Abschied streicht er mir noch ein letztes Mal übers Haar.

Bevor die Tür hinter ihnen zu fällt, kommt jemand in den Raum gestürmt, vorbei an den Friedenswächtern. Ich muss zweimal hinsehen, aber es besteht kein Zweifel: Es ist Grace.

Grace war mal so etwas wie meine beste Freundin. Damals, als ich noch Menschen außerhalb meiner Familie vertraut habe. Wir haben seit ungefähr sieben Jahren nicht mehr miteinander geredet.

„Clove, wieso hast du nicht zugelassen, dass sich jemand für dich freiwillig meldet?!“, wettert sie los. Sprachlos gucke ich sie an. „Du muss mit Cato in die Arena! Ist dir das überhaupt bewusst?“ Als sie zum nächsten Satz ansetzt unterbreche ich sie. „Warum bist du hier? Wir sind keine Freunde mehr! Seit sieben Jahren! Und jetzt tauchst du hier auf und tust quasi so als wäre nichts gewesen?“

Schlagartig hört sie auf im Raum hin und her zu laufen und bleibt stehen, ihr Blick ist ganz ruhig. „Vielleicht kann ich das nicht ungeschehen machen, aber ich möchte, dass du weißt, dass ich immer noch deine Freundin sein kann, wenn du möchtest. Oder sollte ich besser sagen wieder, statt immer noch?“

Na, dass kommt jetzt wirklich überraschend. „Und warum, wenn ich fragen darf?“, frage ich spitz. „Weil ich mit dir zusammen so viel Spaß hatte, wir immer für einander da waren, weil ich es vermisse, dass mich jemand versteht und…weil ich dich immer noch mag und du mir wichtig bist.“ Das Ende hat sie nur geflüstert und es hört sich wirklich wahr an, aber ich weiß auch, dass sie mehr als genug Freundinnen hat. Irgendeine wird ihr schon zuhören.

In meinem Innern herrscht ein einziges Chaos. Es gibt so viele Argumente die dagegen sprechen, aber ein Teil von mir sehnt sich danach, wieder eine beste Freundin zu haben.

Mein Schweigen interpretiert sie als schlechtes Zeichen, ich kann es daran erkennen, dass sich ihr Blick verfinstert. „Komm einfach wieder, ja?“, flüstert sie leise, „Ich glaub an dich.“

Ihre kurze Umarmung zum Abschied erwidere ich nicht, dann geht sie raus. Ich will ihr so gerne verzeihen, will es wirklich, aber kann ich es auch?

Auf der Fahrt zum Bahnhof sitze ich zwischen Cato und Enobaria. Enobaria und Brutus sind die Mentoren von Distrikt 2. Sie sind nicht jedes Jahr beide dabei, aber immer zumindest einer.

Brutus ist ziemlich groß und muskolös und arbeitet im Trainingscenter als Trainer. Er hat eine einzige Trainingsgruppe, zu der nur die allerstärksten gehören. Von manchen werden sie „Brutus‘ Lieblinge“ genannt, aber ein Großteil ist total neidisch auf sie, weil es meistens einer von ihnen ist, der gewinnt. Von diesen Personen haben sie ganz andere, bei weitem nicht so nette, Spitznamen erhalten. Cato hat auch dazu gehört.

Enobaria dagegen sieht auf den ersten Blick eher unscheinbarer aus, ist aber eine wahre Legende, da sie einem Tribut mit den Zähnen die Kehle aufgerissen hat. Nach ihrem Sieg hat sie ihre Zähne verändern lassen, wodurch sie spitz zulaufen. Mir kam es immer etwas unnötig vor, immerhin braucht sie es ja jetzt, nach ihrem Sieg, überhaupt nicht. Vermutlich gehört es einfach zu ihrem Image.

Am Bahnhof warten bereits Fotografen und Kamerateams samt Reportern auf unsere Ankunft und unsere Mentoren, und erst recht nicht Caeli, haben es sehr eilig zum Zug zu kommen, sondern präsentieren uns schön lang der Kamera. Sie wollen wohl jetzt schon Werbung für uns machen. Schon ich bin recht vielversprechend, aber Cato sieht man deutlich an, wie stark er ist und genau solche wie er gestalten die Spiele am blutigsten und brutalsten. Genau das, was man im Kapitol will.

Dazu kommt natürlich noch sein Aussehen: er ist groß, mindestens einen Kopf größer als ich, blond und hat eisblaue Augen. Das wird ihm aber nicht helfen, meinen Messern zu entkommen.

The Girl Behind The WallWo Geschichten leben. Entdecke jetzt