Als auch die letzte Umzugskiste endlich auf dem Parkettboden ihres neuen Apartments stand, hatte Freya das Bedürfnis sich den Pullover vom Leib zu reißen und sämtliche Fenster zu öffnen. Und das, Mitten im November.
Feine Schneeflocken hatten sie begrüßt als sie am frühen Samstagnachmittag in der Stadt, die niemals schläft, angekommen war. Es war, als ob ihr neues Zuhause ihr ein verfrühtes Geburtstagsgeschenk machen wollte. Als Kind des Südens hatte der Schnee sie schon immer fasziniert, zumindest solange sie ihn aus der wohligen Wärme ihres Elternhauses vor dem Fenster vorbei tanzen sehen konnte. Die Kisten durch den Schneematsch auf dem Vorplatz zu tragen, war dagegen eher unangenehm gewesen und hatte sie ziemlich ins Schwitzen gebracht. Doch nun lag die Schlepperei hinter ihr und nur ein paar gezielte Griffe in den Karton mit der Aufschrift 'Küche' trennten sie von einer verdienten heißen —oder doch lieber kalten?— Schokolade. So oder so, den ersten Einkauf direkt an der Raststätte zu erledigen, an der sie in den frühen Morgenstunden für einen Kaffee Halt gemacht hatte, war eine Glanzidee gewesen.Mit einem bestimmten Tritt gegen die untere Kante stieß Freya die Tür zu der kleinen Stadtwohnung ins Schloss. Etwas zu übereifrig, denn der darauffolgende Knall verkündete ihre Ankunft gleich im halben Haus und ließ sie zusammenzucken. Böse Geister versuchten sich einen Weg in ihr Bewusstsein zu bahnen, doch sie schob diese schnell wieder zur Seite. Es war Zeit auszupacken und neu anzufangen. Alles was sie dafür brauchte, war in den Kisten auf dem Parkettboden. Und der Rest sollte gefälligst auch in New Orleans bleiben.
Gestärkt durch die Schokolade, die sie doch lieber kalt genoss, arbeitete sie sich unermüdlich durch die Umzugskisten, bis Stunden nach dem Eindunkeln nur noch eine übrig blieb. 'Arbeit' stand in schwungvollen schwarzen Buchstaben auf dem Pappkarton, der neben Notizblöcken, den Tagebüchern ihres Großvaters, Laptop und Kamera auch ihren wertvollsten Besitz beheimatete: Ihre Underwood Schreibmaschine. Ein schweres, altmodisches Ungetüm, dass Freya trotz seiner Macken von ganzem Herzen liebte.
Das melodische Klicken anschlagender Tasten und das charakteristische Klingeln, welches das Ende einer Zeile ankündigte, hatten ihr über sämtliche Schreibblockaden und Kreativitätslöcher ihrer bisherigen Karriere geholfen. Dementsprechend verdient war der Ehrenplatz auf dem Schreibtisch am Fenster, den sie für die Maschine auserkoren hatte.
Erst als auch noch die letzte Kiste ausgepackt, auseinandergefaltet und zusammen mit dem Rest im Gang verschnürt war, ließ Freya sich erleichtert und glücklich auf das Sofa fallen. Zu ihrer Überraschung war das veraltete Ding bequemer als erwartet. Vielleicht war ein möbliertes Appartement doch keine so schlechte Idee gewesen.
Wahllos zappte sie durch das Fernsehprogramm und blieb schließlich bei den Nachrichten hängen, während ein Teller Nudeln mit improvisierter Tomatensauce Biss für Biss den Weg in ihren knurrenden Magen fand. Zwei Politiker diskutierten gerade über die neue Avengers-Initiative. Ein Thema, dem sie sich im Süden auch bewusst waren. Stadtgespräch waren die Superhelden deswegen noch lange nicht. Hier in New York dagegen, schien die «letzte Chance für die Avengers», wie sie die Nachrichtensprecherin bezeichnete, jedoch die Gemüter zu bewegen. Kein Wunder, gemäss der Reportage lag die Residenz der Superhelden auch irgendwo in der Nähe von Freyas neuen Wahlheimat.***
Wenn ihm vor ein paar Jahren jemand gesagt hätte, dass ein Tag in komfortablen Designer-Sesseln kräftezehrender sein würde als die gnadenlosen Trainings in Sibirien, hätte Bucky wahrscheinlich gelacht. Zumindest innerlich. Doch nach den stundenlangen Vorträgen zu den Spielregeln des neuen Avengers-Protokolls fühlte er sich seinen hundert Jahren näher als je zuvor.
Der Soldat in ihm hatte ein gewisses Verständnis für die Wichtigkeit von Strukturen und Regeln, gerade nach der Katastrophe, die die Avengers vor etwas über einem Jahr zerrissen hatte. Dennoch war er der Ansicht, dass sie es gerade übertrieben. Leute wie Steve konnte man nicht mit Weisungen einpferchen. Der Blonde hatte schon immer allem voran auf sein Herz gehört und daran würde auch diese neue Initiative nichts ändern können. Und was S.H.I.E.L.D. sich von seiner Anwesenheit bei diesen Briefings erhoffte, schien niemandem so wirklich klar zu sein.
Zugegeben, überrascht darüber, dass er nicht in Wakanda sondern einem Bunker irgendwo auf dem amerikanischen Festland aus der Kryostase erwachte, war Bucky nicht gewesen. Nazis, Hydra, S.H.I.E.L.D.- sie waren alle gleich: Meister darin, jede Situation zu ihren Gunsten auszubeuten. Und in seinem Fall hieß das wohl, dass Amerika den Winter Soldier lieber auf der eigenen Seite als im gegnerischen Lager wusste. Sie hatten zwar betont, dass Hydras Manipulationen beseitigt worden waren und es seine freie Entscheidung war, doch eine wirkliche Wahl hatten ihm der Typ mit der Augenklappe und sein Anzug-tragender Chef dennoch nicht gelassen. Kämpfen oder hinter Gittern verrotten, das war die Devise. Und er konnte einfach nicht länger eingesperrt sein.
«Ich habe gesehen, dass sie im Kino bei mir um die Ecke nächste Woche einen Star Wars Marathon laufen haben. Magst du hingehen?», riss Steve ihn aus seinen Gedanken. Sie standen an einem der unzähligen Rotlichter, die die Avengers Residenz von der Wohnung trennten, in der sie ihn unter falschem Namen einquartiert hatten.
«Was ist das schon wieder?» Ich wäre schneller, wenn ich einfach aussteigen und laufen würde.
«Eine Reihe von Science-Fiction-Filmen, die praktisch Kulturgut sind. Es ist eines der Dinge auf der Liste, die ich dir gegeben hab.»
Bucky nickte leicht. An die Liste konnte er sich vage erinnern. Wo hatte er das Notizbuch schon wieder hingesteckt?
Er war dankbar für all die Bemühungen, die sein bester Freund unternahm, damit er sich an die neuen Umstände gewöhnen konnte. Aber wenn er ehrlich war, nützten sie in etwa genauso viel, wie die unangenehmen Fragen, mit denen seine gerichtlich angeordnete Therapeutin ihn ständig löcherte: Gar nichts. Er gehörte nicht hierher. Ohne den Filter des Winter Soldiers war diese moderne Welt zu laut, zu nervös und zu hektisch. Ein wenig Ruhe, das war alles, worum er Steve gebeten hatte, bevor er in Kryostase versetzt wurde. Etwas Frieden, nachdem die Wissenschaftler mit seinem Gehirn zufrieden waren. Doch selbst das war offenbar zu viel verlangt.
Er wusste, dass es nicht Steves Fehler war. Er hatte in der ganzen Sache wahrscheinlich genauso wenig Entscheidungsfreiheit wie Bucky selbst. Und dennoch gab es Momente, in denen er es ihm übel nahm, dass er ihn vor Stark gerettet hatte. Hätte er den Iron Man machen lassen, wäre alles längst vorbei. Und er hätte endlich Ruhe.
«Bucky?»
Schon wieder ein Rotlicht. Würden sie denn heute überhaupt noch ankommen? «Ja, bin dabei.»
Steve schien mit der Antwort nicht komplett zufrieden zu sein. Eine tiefe Furche hatte sich auf seiner Stirn gebildet. «Du warst ziemlich ruhig heute. Ist alles in Ordnung?»
21, zählte er innerlich mit. Wie lange dauert es wohl noch, bis sie dieser ständigen Fragerei leidig werden? 87 Tage waren offenbar nicht genug. 87 Tage, an denen ihn mindestens fünfzehn Mal jemand fragte, ob alles in Ordnung sei. Und trotzdem wusste er immer noch nicht, wie er darauf antworten sollte.
«Sorry, nach beinahe siebzig Jahren in Kryo bin ich etwas außer Übung wenn's um Smalltalk geht.» Nein, diese Art von bissigem Kommentar hatte Steve nicht verdient. «Ich versteh einfach nicht, was ich an all diesen Meetings soll. Ich bin keiner von euch.»
«Das stimmt nicht Buck. Du gehörst genauso dazu wie—»
«Stark scheint meiner Meinung zu sein.» Und er war damit nicht allein. Bucky war die eisige Stimmung nicht entgangen, die sich immer dann ausbreitete, wenn er einen Raum betrat. Einzig die Freundlichkeit des roten Robotermenschen mit dem Edelstein im Kopf schien nicht nur Steve zuliebe vorgespielt zu sein. Vielleicht spürte er eine Art Verbundenheit, weil Buckys neue Prothese ebenfalls aus Vibranium bestand. Der alte Titanarm war nach dem Kampf mit Stark nicht mehr zu retten gewesen. Eine Tatsache, für die er schon beinahe dankbar war. Doch nur weil Hydra nicht länger physisch ein Teil von ihm war, waren die Nazi-Fanatiker nicht auch automatisch für immer aus seinem Kopf gebannt. Direktor Fury behauptete zwar, dass sie es in Wakanda getestet hatten, doch Bucky konnte sich nicht mehr daran erinnern. Vermutlich, weil sie mit seinen Erinnerungen gespielt hatten. Wieder einmal. Er hatte mehrmals darüber nachgedacht, Steve zu bitten, die Worte zu sagen. Doch der Mut hatte ihm trotz der erdrückenden Ungewissheit bisher gefehlt.
«Tony mag nachtragend sein, aber wenn er wirklich etwas gegen deine Anwesenheit hätte, wärst du gar nicht erst in das Gebäude reingekommen.» Steve bog endlich in seine Straße ein und Bucky wartete nicht bis der Wagen komplett stillstand.
«Hey!» Steve hielt ihn auf, bevor er die Tür zuwerfen konnte. «Tu mir einen Gefallen: Sei pünktlich bei Dr. Raynor übermorgen, okay? Wenn Sam noch einmal Kindermädchen spielen muss, dreht er mir persönlich den Hals um.»
Die Szene, die sich bei diesen Worten vor seinem inneren Auge abspielte, ließ Bucky lächeln. «Keine Sorge, wenn's so weit kommt, halte ich dir den Rücken frei.» Er hob kurz die rechte Hand zum Abschied.
Steve hinter der Windschutzscheibe lächelte ebenfalls, bevor er den Wagen wendete und davonfuhr. Schneematsch spritzte über den Vorplatz und nässte Buckys Jeans. Er fluchte, «Пиздец.» Noch ein Grund das New York der heutigen Zeit zu hassen. In Sibirien war es wenigstens kalt genug gewesen, dass der Schnee auch Schnee blieb. Er schüttelte den Matsch so gut es ging ab, bevor er seinem täglichen Weg zum Briefkasten folgte. Dieser war bis auf Gratiswerbung immer leer. Niemand kannte James Roberts— mit der Ausnahme von Steve, der den Namen ausgesucht hatte. Wer sonst hätte den Mädchennamen seiner Mutter gewählt?
Bucky trat ins Treppenhaus und blätterte nebenbei wahllos durch ein Möbelmagazin, das wahrscheinlich ein unterbezahlter Kurier lieblos eingeworfen hatte. Und für so etwas wird heutzutage Papier verschwendet. Die Welt hat echt ein Problem.
Er fand das Schloss seiner Wohnungstür blind und sah erst auf, als ihn ein unerwarteter Lichtstrahl traf. Seine Wohnung war gewohnt dunkel, doch auf der anderen Seite des Innenhofs, direkt gegenüber von ihm, brannte Licht. Dabei hatte das Apartment seit seinem Einzug leer gestanden.
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Ich wohne nebenan - eine Bucky Barnes-FF [Rewrite]
FanfictionEin Apartment mitten in Brooklyn, eine Kolumne in einer der renommiertesten Zeitschriften der Stadt und der erste Schnee. Besser hätte hätte sich Freya den Wechsel in ihre neue Stelle nicht erträumen können. Der perfekte Anfang für ihr ganz persönli...