Kapitel 2 - Starobin

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Marusya erwachte, als der Panzer anhielt. Für einen Moment konnte sie sich nicht daran erinnern, was geschehen war. Doch dann traf sie die Erkenntnis wie ein Schlag ins Gesicht. Ihr Großvater war tot. Ihr kleiner Bruder war tot. Erschossen von dem Mann, der ihr gerade von dem Panzer hinunterhalf. Den Gedanken an Flucht hatte sie noch immer nicht ganz aufgegeben, also betrachete sie ihre Umgebung, wobei sie nach Fluchtmöglichkeiten suchte.

Sie waren in Starobin, der nächstgrößeren Stadt. Marusya war schon lange nicht mehr hier gewesen, aber es war völlig anders als in ihrer Erinnerung. Damals waren die Straßen voll von emsigem Treiben gewesen. Jetzt waren die Straßen menschenleer. Der Mann in der schwarzen Uniform forderte sie mit einer Geste auf, ihm zu folgen. Als er ihr den Rücken zudrehte, dachte Marusya kurz an Flucht, musste den Gedanken aber verwerfen, als sie bemerkte, dass ihnen zwei weitere Soldaten aus dem Panzer folgten.

Der Mann in der schwarzen Uniform schien gute Laune zu haben. Im Laufen zündete er sich eine Zigarette an und nahm einen tiefen Atemzug. Als er fertig war, drehte er sich zu Marusya um.

„Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt, nicht wahr? Wie unhöflich von mir!" Er lachte kurz auf und schüttelte den Kopf. „Verzeihung, Marie. Ich", dabei zeigte er mit dem Finger auf sich selbst, „bin Heinrich Wolf. Heinrich Wolf", wiederholte er noch einmal langsamer.

Marusya brauchte einen Moment, um seinen auffordernden Blick zu verstehen. „Chenrick Wof?", stammelte sie ungeschickt hervor. Kommandant Wolf lächelte nachsichtig und übte mit ihr, während sie weitergingen. Nach einigen Versuchen schien er zufrieden zu sein, denn er nickte und schaute wieder nach vorn. Marusya folgte seinem Blick.

Dutzende Menschen waren auf dem Marktplatz versammelt. Männer, Frauen und Kinder waren zu allen Seiten von deutschen Soldaten umstellt. Stände waren umgeworfen worden und die Waren lagen überall auf dem Boden zerstreut.

Ein junger Offizier lief auf den Kommandanten zu und salutierte. „Auf dem Marktplatz befinden sich siebenundsechzig Juden. Vermutlich verstecken sich noch einige, aber wir haben alle, die wir bisher gefunden haben zunächst auf dem Marktplatz festgesetzt und auf Ihre Ankunft gewartet, Herr Kommandant."

Der Mann in der schwarzen Uniform salutierte kurz. „In Ordnung, Sie können wegtreten." Jegliche Wärme, die er eben noch im Umgang mit Marusya ausgestrahlt hatte, war aus seinem Gesicht verschwunden. An ihre Stelle trat eine kalte Professionalität, die Marusya schaudern ließ. „Was passiert mit den Menschen?", fragte sie sich, auch wenn sie die Antwort bereits vermutete.

Als sie weitergingen kamen sie an einem Soldaten vorbei, der an eine Hauswand gelehnt auf dem Boden saß. Sein Gesicht war völlig malträtiert worden. Regelmäßig spukte er Blut aus, das sich ständig in seinem Mund sammelte. In seiner Nähe lagen zwei Leichen. Ein älterer Mann, der scheinbar zu Tode geprügelt worden war. Ein jüngerer Mann, nur etwas älter als Marusya, lag mit einer Schusswunde im Kopf daneben.

„Soldat!", sprach Kommandant Wolf den Verwundeten an. Dieser spukte noch einmal Blut auf den Boden, bevor er hochsah und bemerkte, mit wem er redete. Hastig stand er auf und salutierte, wobei er etwas Schwierigkeiten hatte das Gleichgewicht zu halten.
„Erklären Sie Ihren Zustand, Soldat", verlangte der Kommandant.

„Otto Kernstein, Gefreiter der 110. Infanteriedivision. Der alte Bastard hat sich widersetzt, also hab' ich ihm ‚ne Lektion erteilt. Mit 'nem Stiefel im Gesicht hat er das Maul auf einmal nicht mehr so weit aufbekommen." Der Soldat machte eine Pause, in der er leise lachte und dass das Blut in seinem Mund hinunterschluckte, um nicht erneut vor seinem Vorgesetzten auf den Boden spucken zu müssen. „Hat seinem Nachwuchs nicht gepasst. Hat mich von hinten überrascht. Ein Kamerad hat mir geholfen und ihn beseitigt."

Marusya [Pausiert]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt