Kapitel 9 - Germanisierung

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Frau Heller ging mit ihrem typischen aufrechten Marschieren, das zugleich jedoch elegant wirkte, auf direktem Weg zu ihrem Pult. Dort angekommen, auf einem Podest, das sie über ihre Schülerinnen herausragen ließ, blieb sie stehen und wandte sich der Klasse zu. Um den Gruß zu erwidern streckte sie kurz den Arm aus und befahl: „Setzt euch."

Wie einstudiert folgten alle Mädchen zugleich dem Befehl und nahmen Platz. Nur Marusya brauchte einen Augenblick länger, um zu erkennen, was zu tun war. Aus den Augenwinkeln schaute Marusya sich um. Stocksteif und aufrecht saßen die Mädchen in ihren Stühlen, selbst die jüngsten. Eine Aura der stillen Nervosität erfüllte den Raum breit. Die Stille war so absolut, dass Marusya das unruhige Atmen ihrer kleinen Klassenkameradinnen wahrnahm, obwohl sie so weit weg von ihnen saß.

„Mädchen, wir haben eine neue Kameradin in unseren Reihen. Ich möchte, dass ihr euch vorstellt und euren Namen sagt." Frau Heller redete auf Deutsch, jedoch sehr betont und langsam. Als das Wort „Namen" fiel, wussten alle, worum es ging. Auch Marusya hatte bereits gelernt, was „Name" bedeutet, wenngleich schreckliche Erinnerungen an die Lektion geknüpft waren. Marusya kämpfte die Tränen, die plötzlich in ihr aufstiegen, verbissen nieder. „Reiß dich zusammen!", ermahnte sie sich.

Nach und nach stellten die Mädchen sich vor, mit der immer gleichen Formel: „Mein Name ist...". Einige der kleineren scheiterten kläglich bei der Aussprache oder nannten nur kurz ihren Namen, mal mit mehr und mal mit etwas weniger Akzent. Schließlich war Marusya an der Reihe. Erst wollte sie es den Kleinen gleich tun und lediglich ihren Namen nennen, um sich nicht bei der Aussprache der fremden Worte blamieren zu müssen. Doch als sie den forschenden Blick von Frau Heller bemerkte wurde Marusya bewusst, das dies keine bloße Vorstellungsrunde war. Es war ein erster Test, um zu schauen, wie anpassungsfähig sie war.

Fieberhaft versuchte Marusya, sich an den genauen Wortlaut zu erinnern, den die anderen Mädchen verwendet hatten. „Meyin Name irst Marie", brachte sie schließlich angestrengt heraus. Unsicher schaute sie zu Frau Heller, die ermutigend lächelte und Marusya im Namen aller in der Klasse willkommen hieß. Marusya lächelte nervös zurück. Die erste Prüfung war bestanden.

Nachdem die Vorstellungsrunde beendet war, saßen alle Mädchen aufmerksam auf ihren Stühlen und warteten gespannt, was Frau Heller als nächstes sagen würde. In einigen Augen entdeckte Marusya das Funkeln von nervöser Angst, in anderen jedoch das Funkeln von Aufregung. Es gab keinen Laut im Raum, während Frau Heller durch die Tischreihen schritt.

„Hände auf den Tisch!" lautete der Befehl, der nun auch in die zuvor aufgeregten Augen das Funkeln von Angst hervorrief. Folgsam legten alle Mädchen ihre Hände mit gespreizten Fingern auf ihre Tische. Auch Marusya folgte unsicher. Nervös betrachtete sie die völlig verschmutzten Fingernägel, die das Bad ohne Spuren überstanden zu haben schienen. An vielen Stellen war ihre Haut ihrer Hand aufgerissen und von kleinen Wunden übersät. Marusya bekam ebenfalls Angst. Ihre Hände sahen schrecklich aus. Welche Strafe würde sie dafür bekommen?

Ein Knall schreckte Marusya auf. Sofort übernahmen ihre Überlebensinstinkte die Kontrolle und ließen sie unter dem Tisch in Deckung gehen. Die schmutzigen Hände, die sie schützend über ihren Kopf hielt, zittertenn leicht. Nach kurzer Zeit beruhigte Marusya sich wieder so weit, dass sie erkannte, woher der Knall gekommen war. Frau Heller hatte mit einem Holzstab auf ihren Tisch geschlagen. Nachsichtig betrachtete Frau Heller Marusya, die sich wieder aufraffte und aufrecht an ihren Platz setzte. Nicht in der Lage, den forschenden Blick zu erwidern, hielt Marusya den Blick auf ihre Finger gerichtet. Frau Heller machte mit ihrem Gesichtsausdruck deutlich, dass sie mit Marusyas Händen unzufrieden war, und klopfte leicht auf ihre Fingerknöchel, bevor sie weiterging.

Dann ertönte ein Schrei. Eines der kleineren Mädchen hielt sich die geröteten Finger an die Brust und versuchte, Tränen zurückzuhalten. „Zu lang", kommentierte Frau Heller und ging weiter. Immer wieder ertönten Schreie. „Schmutzig. Unregelmäßig." Marusya zitterte. Für heute war sie verschont worden. Aber das nächste mal würde sie auch vor Schmerz aufschreien müssen, wenn sie Frau Hellers Ansprüchen nicht genügen sollte. Marusyas Augen wurden feucht. Wie lange würde sie das hier aushalten müssen? Oder wie lange würde sie es hier aushalten können bevor sie nicht mehr konnte?

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⏰ Letzte Aktualisierung: Mar 15, 2023 ⏰

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Marusya [Pausiert]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt