Kapitel 8 - Kameraden

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Sobald am Morgen die Glocke ertönte stand Marusya auf. Valerie lächelte erleichtert, obwohl sie völlig übermüdet war, und zog sich eine kurze Hose und ein Unterhemd an. Marusya öffnete ihren Schrank und wollte es ihrer Freundin gleichtun, doch Valerie schüttelte den Kopf und deutete stattdessen auf die Uniform, die Marusya zu Beginn erhalten hatte. „Du musst zu Frau Heller ins Büro. Da musst du einen guten Eindruck machen. Zieh dafür lieber das an."

Valerie half Marusya mit dem Halstuch und flocht ihr geschickt zwei Zöpfe. Zufrieden mit ihrem Aussehen führte Valerie sie aus dem Zimmer. Mädchen in der gleichen Kleidung wie Valerie liefen im Gang umher und hatten es eilig, in den Innenhof zu gelangen. Valerie folgte ihnen nicht, sondern begleitete Marusya bis zu Frau Hellers Büro.

Wolfs aufgebrachte Stimme drang nach außen: „Ich möchte mich wenigstens von ihr verabschieden! Ist das denn zu viel verlangt?"

Was Frau Heller darauf antwortete konnte Marusya nicht verstehen, aber plötzlich wurde die Tür aufgerissen und Wolf stürmte wutentbrannt hinaus. Marusya verkrampfte bei seinem Anblick und packte instinktiv Valeries Hand. Beinahe wäre er an Marusya vorbeigelaufen, hielt jedoch im letzten Augenblick inne.

„Marie! Es geht dir besser, wie schön!" Sein Gesicht wechselte sofort zu einem freundlichen und fröhlichen Ausdruck. „Es tut mir Leid, dass ich dich nicht besuchen konnte, Frau Heller hat mich stets davon abgehalten. Sie sagte, dass du von selbst zur Vernunft kommen musst, was auch zum Glück funktioniert hat." Seine Hand strich Marusya über die Haare und sie erschauderte.

„Ich muss dringend fort und wollte mich noch unbedingt von dir verabschieden." Mit diesen Worten schloss Wolf Marusya in die Arme. Marusya rang mit sich, schaffte es aber, die Umarmung widerwillig zu erwidern, was Wolf sichtbar erfreute. „Lern fleißig und sei brav. Ich komme dich sobald es möglich ist besuchen. Versprochen." Nach einem kurzen Blick auf seine Armbanduhr lief er zügig in Richtung Ausgang, winkte ihr jedoch noch ein letztes mal zu, bevor er verschwand.

Marusya atmete heftig und versuchte, ruhig zu bleiben. Wolf hatte sie völlig aus dem Konzept gebracht. Valerie drückte ihre Hand und flüsterte ihr auf russisch ins Ohr: „Er hat sich verabschiedet. Er ist weg. Zumindest eine Zeit lang."

Langsam beruhigte sich Marusya wieder. Als sie sich bereit fühlte, nickte sie Valerie zu. Ein letztes mal drückte Valerie ihre Hand und lächelte ermutigend, als Marusya das Büro betrat.

Frau Heller saß an ihrem Schreibtisch und schaute nicht von ihren Unterlagen auf, obwohl sie Marusya gehört haben musste. Nach einigen Sekunden fragte Marusya, wobei sie besonders auf die korrekte Aussprache der fremden Worte achtete: „Frau Heller?"

Kurz schaute sie auf, war jedoch bereits wieder in ihren Unterlagen vertieft, als sie Marusya mit einer Handbewegung aufforderte, sich zu setzen. Unruhig knetete Marusya ihre Finger, versuchte jedoch sich ansonsten nichts anmerken zu lassen. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis Frau Heller endlich den Füllfederhalter ablegte und sich zurücklehnte. „Was möchtest du, Kind?" Fragte sie auf russisch.

„Ich ... ich möchte Deutsch lernen." Marusyas linkes Bein hüpfte nun vor Nervosität leicht auf und ab. Frau Hellers undurchschaubarer Gesichtsausdruck, als sie die Frage stellte, verunsicherte sie.

„So. Deutsch möchstest du noch lernen. Sonst noch etwas?" Die einzige Regung in Frau Hellers Gesicht war eine Augenbraue, die sich kaum merklich hob.

Fieberhaft suchte Marusya nach einer guten Antwort. Was wollte Frau Heller hören? „Ich möchte wie die anderen lernen, Deutsch zu werden. Meine Vergangenheit hinter mir lassen. Ich möchte jemand anderes werden. Alles vergessen und mich ganz meiner Zukunft im Deutschen Reich widmen." Marusya erschrak, als sie erkannte wie viel Wahrheit und echtes Verlangen in diesen schrecklichen Worten steckte, die gerade ihre Lippen verlassen hatten.

Marusya [Pausiert]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt