Kapitel 5 - Die letzte Reise

129 8 6
                                    

Schüsse donnerten über die verzweifelten Schreie von Wolf hinweg. Sie waren Teil des blutigen Gewitters, das in der gesamten Straße tobte. Sie waren Teil der Zerstörung und des Leids um sie herum. Doch für Marusya waren sie das Signal, das ihre Befreiung einleiten würden. Die Augen geschlossen und die Arme in freudiger Erwartung ausgestreckt wartete sie auf den Schmerz, der sie vor die Pforten des Todes führen und hindurchleiten würde.

Doch es gab keinen Schmerz. Vor ihr schrien die getroffenen Gefangenen vor Qual auf, aber Marusya fühlte nichts. Etwas stimmte nicht. Sie öffnete die Augen.

Vor ihr stand ein deutscher Soldat. Mehrere Schüsse hatten Teile seiner Beine zerfetzt, wehalb er zu straucheln begann und zu Boden fiel. Marusya verstand nicht, was gerade geschehen war. Wolf war zu weit weg. Er war der einzige, der wahnsinnig genug wäre, um sein Leben für ihres zu opfern. Marusya verstand nicht. Sie hätte sterben müssen. Sterben sollen.

Der am Boden liegende Soldat drehte sich mühsam auf den Rücken und schaute nach oben zu Marusya, die über ihm stand und ihn verständnislos anstarrte. Als sie sein Gesicht erkannte, weiteten sich ihre Augen vor Überraschung.

Verwirrt schaute sie auf Hennig herab, der aus mehreren Wunden blutend vor ihr auf der Straße lag. Er hatte sich in die Schussbahn geworfen. Für sie die todbringenden Kugeln abgefangen. Warum hatte er das getan? Auf Befehl von Wolf? Aber bei dem Flugzeugabsturz hatte er doch gezeigt, dass er sein eigenes Leben schätzte. Dass er es nicht für ein dahergelaufenes Mädchen wegwerfen würde.

Marusya wurde wütend. Was fiel diesem Deutschen ein, ihr die Gnade des Todes zu verwehren? Ihre einzige Hoffnung zu zerschmettern? Wegen ihm würde dieser Alptraum weitergehen! Wolf würde sie nie wieder aus den Augen lassen. Er würde sicherstellen, dass sie weiter in ihrem zu einer Tortur verkommenen Lebens gefangen bleiben würde. Zumindest konnte sie Rache üben und dafür sorgen, dass Hennig seine heroische Tat bereuen würde. Marusya hob ihren Fuß, bereit die schönen Stiefel mit Blut zu beflecken.

Hennigs Blick fokussierte sich und wanderte an Marusyas Körper entlang, bevor er ihr mit klarem Blick in die Augen sah. Marusya zögerte. Es war keine Spur von Wahnsinn zu erkennen. Nichts, das seine irrationale Entscheidung erklären würde. Kleine Fältchen bildeten sich, als sein Mund ein Lächeln formte. Kein falsches Lächeln wie eines von Wolf, das stets die eigentlichen Absichten verbarg. Sein Lächeln kam von Herzen. Es war ein Ausdruck der Freude, weil Marusya unverletzt war. Weil es ihm gelungen war, jemanden zu retten. Weil er, vielleicht das erste mal in seinem Leben, stolz auf seine Tat war.

Das donnernde Gewitter der Gewehre verstumte. Marusya löste den Blick von Hennig und schaute sich um. Die Soldaten, die ihren Kameraden getroffen hatten, kamen besorgt und aufgeregt rufend angelaufen. Sie bildeten einen Kreis und verbanden schnell und dürftig die Wunden Hennigs. Ein Streit um die Schuld für dieses Unglück entbrannte zwischen ihnen.

Maursya schaute sich um. Die Gefangenen lagen entweder vor Schmerzen winselnd am Boden oder knieten sich mit erhobenen Händen auf die blutbefleckte Straße. In der Ferne entdeckte Marusya das entführte Fahzeug, das hinaus aus der Stadt, in Richtung Freiheit davonfuhr. Wie gern würde sie ebenfalls mitfahren können. Plötzlich tauchte aus einer Nebenstraße ein Panzer auf und versperrte den Fluchtweg. Der Fahrer des Transporters schaffte es nicht mehr auszuweichen, also beschleunigte er und sprang dann als letzter aus dem Fahrzeug, bevor es laut krachend in den Panzer hineinraste. Qualm verdeckte die Sicht. Schüsse ertönten.

Als sich der Qualm wieder etwas verzogen hatte, wurde der Blick auf die Fliehenden frei, die sich gerade dem Panzerkommandanten ergaben oder tot auf der Straße lagen. Marusyas Blick wanderte zu dem Panzer und dem Transporter, von dem inzwischen nur noch ein qualmender Haufen Metall übrig war. Der Panzer schien sich durch den Aufprall keinen Zentimeter bewegt zu haben. Das stählerne Ungetüm stand noch immer mitten in der Straße, die Kanone triumphierend erhoben. Unaufhaltsam. Unbesiegbar.

Marusya [Pausiert]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt