Kapitel 3 - Partisanen

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Marusya schwieg während der Fahrt und lauschte den fremden Worten, die der Fahrer und der Kommandant austauschten. Auch wenn sie nichts verstand, konnte sie vielleicht doch etwas durch Kontext und Tonlage in Erfahrung bringen.

„Waren das wirklich alle arbeitsverwendungsfähigen* Juden, die Sie gefunden haben?", fragte Wolf.

„Ja. Die meisten, die wir gefunden haben, waren Frauen und Kinder, Kommandant."

„Wie bitte?", fragte Wolf steif nach.

„Unter den hundertsiebenunddreißig Juden waren kaum erwachsene Männer. Die Handwerker und die hier hinten waren beinahe alle Männer, die wir auf dem Marktplatz und bei den Hausdurchsuchungen gefunden haben." Der Fahrer klang nervös und versuchte vergeblich, seine Unsicherheit zu überspielen, indem er betont langsam redete.

„Und Sie haben es nicht für nötig gehalten, das zu melden?" Wolf blieb ruhig, aber Marusya hörte die Anspannung in seiner Stimme. „Fahren Sie schneller. Ich will vor Einbruch der Dunkelheit die nächste Stadt erreichen."

„Jawohl."

Das Fahrzeug beschleunigte und Marusya musste sich reflexartig an dem Mann neben ihr festhalten, um nicht herunterzufallen. Dieser warf ihr einen argwöhnischen Blick zu. Schließlich fragte er: „Was machst du eigentlich hier? Sollst du aufpassen, dass wir nicht fliehen? Oder uns nach Widerstandskämpfern ausfragen, bevor sie uns umbringen?"

„Ich arbeite nicht für die. Ich bin nur hier, weil ich keine andere Wahl habe." Marusya schaute nach hinten, an dem Mann vorbei. Sie verstand, wieso er so dachte. Sie hätte wahrscheinlich dasselbe vermutet.

„Du sprichst gut russisch für eine Deutsche."

„Ich bin Russin."

„Eine Kollaborateurin?" Sein Ton wurde noch argwöhnischer und die ohnehin schon feindesligen Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. „Wie der alte Bürgermeister und der Ärztesohn?"

„Nein, ich ..." Marusya wandte sich wieder dem Mann zu, doch der schnitt ihr das Wort ab.

„Der junge Komarov hat sie direkt zu meiner Familie geführt. Sein Vater hat uns Juden immer ohne ein Wort zu verlieren geheilt, auch wenn er unverschämt viel Geld dafür verlangt hat. Und so dankt uns sein Sohn, der durch unser Geld ein gutes Leben ermöglicht bekommen hat? Die Deutschen haben uns das eigene Grab schaufeln lassen und alle bis auf uns umgebracht. Meine kleine Polina konnte noch nicht einmal richtig laufen und sie haben sie ..." Sein vor Wut verzerrtes Gesicht löste sich nach und nach in Tränen auf, die ihm in Strömen das Gesicht herunterliefen. „Diese Bastarde hatten nicht einmal die Gnade, mich ebenfalls zu erschießen!", schluchzte er.

Marusya musste an den Tag des Überfalls denken, und ihr kamen ebenfalls die Tränen. „Sie haben meinen Großvater und kleinen Bruder erschossen", sagte sie mit erstickter Stimme, bevor sie ebenfalls in Tränen ausbrach. Der Mann schloss Marusya in seine kräftigen Arme und drückte sie an sich. So spendeten sie sich gegenseitig Trost, in dem Wissen, dass sie mit ihrem Schmerz nicht alleine waren.

„Ruhe da hinten!", rief Wolf und drehte sich mit der Pistole in der Hand nach hinten. Als er jedoch sah, dass auch Marusya weinte, verstummte er sofort und drehte sich wieder nach vorne.

Die beiden im Führerhaus redeten weiter, aber Marusya war von ihrem Gefühlen so überwältigt, dass sie den unverständlichen Worten keine Aufmerksamkeit mehr schenken konnte. Ketten rasselten, als der Mann sich vor Weinen schüttelte. „Wohin bringen sie uns?", fragte er.

Marusya schwieg. Sie wusste die Antwort selbst nicht, aber vermutete, dass Wolf mit ihr etwas anderes vorhatte als mit diesen unglücklichen Männern.

Plötzlich ertönten mehrere Schüsse aus dem dunklen Wald um sie herum. Die Windschutzscheibe zersplitterte und der Fahrer verlor die Kontrolle über das Fahrzeug. Der Transporter kam von der schmalen Straße ab und schlitterte nach links in den Wald hinein. Der Fahrer versuchte, dagegenzusteuern, wodurch das Fahrzeug hinten stark ausscherte. Marusya wurde aus den Armen des Mannes gerissen, als die Eisenkette an seinem Fußgelenk verhinderte, dass er ebenfalls aus dem Fahrzeug geschleudert wurde. Einen Moment fühlte sich Marusya schwerelos. „Ich bin frei", dachte sie, kurz bevor sie auf dem Boden aufschlug. Marusya überschlug sich mehrfach, bevor sie mit dem Rücken gegen einen Baum prallte.

Marusya [Pausiert]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt