Kapitel 4 - Minsk

161 10 11
                                    

Hinweis: In diesem Kapitel werden Selbstmordgedanken thematisiert.

Es war erst kurz vor der Morgendämmerung, als Marusya wieder erwachte. Einen Moment blieb sie benommen liegen. Die leichten Erschütterungen des fahrenden Gefährts verstärkten ihre Benommenheit. Erst als ihr bewusst wurde auf wessen Schoß ihr Kopf ruhte schreckte sie abrupt auf.

Vor ihnen tauchte eine Stadt vor den dunklen Umrissen des Horizonts auf. „Minsk", las Marusya auf einem Schild am Straßenrand. Wolf hielt das Lenkrad noch immer fest umklammert und den Blick konzentriert auf die Straße gerichtet, wirkte aber seltsam abwesend.

Die ersten Strahlen der Sonne ragten hinter ihnen über den Horizont und warfen ihr Licht auf eine Straßensperre. Das aufgemalte schwarze Kreuz mit weißer Umrandung auf einem Blech zeigte, dass es sich um eine Blockade der Deutschen handelte. Der Panzer, neben dem sie Wolf das erste mal gesehen hatte, hatte die gleiche Markierung getragen.

Sie näherten sich immer weiter der Sperre, aber Wolf verlangsamte das Fahrzeug nicht. Unsicher schaute Marusya ihn aus den Augenwinkeln an. Seine Augen waren geöffnet, doch er schien kaum erfassen zu können, was um ihn herum geschah. Marusya warf einen schnellen Blick nach vorne. Die Blockade war in der kurzen Zeit bedrohlich näher gekommen. Jetzt konnte sie bereits die deutschen Soldaten erkennen.

„Halten Sie das Fahrzeug!", rief einer von ihnen. „Anhalten! Sofort!"

Marusya geriet in Panik. Wolf war noch immer nicht ganz bei sich. Sie fühlte sich gezwungen, auf seinen Schoß zu sitzen, um die Pedale bedienen zu können. Sie war noch nie gefahren und das letzte mal dass sie in einem Auto gesessen war, war auch das letzte mal gewesen, als sie ihre Mutter gesehen hatte.

Sie wusste zwar, dass man das Fahrzeug mit den Fußpedalen beschleunigen oder abbremsen konnte, hatte aber keine Ahnung, welches Pedal welche Funktion hatte. Als sie auf das Pedal trat, welches sich ganz rechts befand, machte das Fahrzeug einen Satz nach vorne. Die Soldaten vor ihr riefen sich Befehle zu und nahmen Gefechtspositionen ein. „Nicht gut", dachte Marusya, bevor sie mit voller Kraft auf das Pedal in der Mitte trat.

Bremsen quietschten und das Fahrzeug verlangsamte sich, doch es kam nicht zum Stillstand. Der Motor heulte auf, als er gegen die Bremsen ankämpfte. Wolf erwachte aus seiner Starre und brauchte einige Augenblicke um zu erkennen, was gerade passierte. Dann drückte er das linke Pedal, die Kupplung, und das Fahrzeug kam endlich zum Stillstand.

Wolf klopfte Marusya dankend auf die Schulter, woraufhin sie schnell von seinem Schoß zurück auf den Beifahrersitz kletterte. Sie schauderte wegen ihrer Nähe zu ihm, was Wolf zu ihrem Glück nicht bemerkte. Er stieg mit erhobenen Händen aus dem Fahrzeug und redete auf die Soldaten ein, die noch immer ihre Waffen auf sie gerichtet hatten. Wolf schwankte und durch das inzwischen größtenteils getrocknete Blut in seinem Mund klang seine sonst klare und eindrucksvolle Stimme seltsam gedämpft.

Die Soldaten senkten ihre Waffen und zwei von ihnen liefen auf Wolf zu, um ihn zu stützen. Ein weiterer lief auf die noch immer unentschlossen auf dem Beifahrersitz sitzende Marusya zu und zog sie aus dem Fahrzeug. Als er sie am Arm packte und mitzerrte schrie sie erschrocken auf, versuchte aber nicht gegen ihn anzukämpfen. Sie hatte ihre Lektion in der vorherigen Nacht gelernt: Wer kämpfte, wurde erschossen. Wer nicht auf der Seite der Deutschen war, wurde erschossen. Also folgte sie dem Soldaten.

„Was machen wir mit dem Mädchen hier? Gehört sie zu Ihnen, Herr Kommandant?", frage er.

Wolfs Antwort schien selbst für die Soldaten unverständlich zu sein, aber seine fahrige Gestik machte dennoch deutlich klar, dass er Marusya an seiner Seite haben wollte. Der Soldat, der Marusya festhielt, gehorchte und brachte sie zu ihm. Wolfs eiserner Griff schloss sich um ihr linkes Handgelenk, woraufhin der Soldat Marusya losließ. Bevor er wieder zu seinem Posten an der Barrikade ging, flüster er einem der Soldaten, der Wolf stützte zu: „Hör zu, Hennig. Ich weiß nicht was, aber mit der stimmt was nicht. Der Kommandant will sie jedenfalls bei sich haben, also pass auf sie auf, verstanden?"

Marusya [Pausiert]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt