Kapitel 6 - Marienburg

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Marusya wurde in die Burganlage hineingeführt. Obwohl das Burggelände eine riesige Fläche umfasste hatte Marusya das Gefühl, von den roten Mauern der Vorburg eingeeingt zu werden. Für Marusya war dies keine Burg, keine Anlage zum Schutz der Bewohner. Für sie schien es eher wie ein Gefängnis. Eine Erinnerung daran, dass sie nicht entkommen konnte.

Wolf führte sie durch die äußere Burganlage und an einigen Häusern vorbei. Bewohner, die ihnen begegneten, grüßten Wolf mit fröhlichem Hitlergruß. Ein Mann, der wie Wolf eine Totenkopfmütze trug und dessen Kragen ebenfalls die zwei Blitzsymbole zierte, rief stolz „Sieg Heil", was Wolf nicht ganz so enthusiastisch erwiderte. Etwas schien ihn zu beschäftigen.

Wolf und Marusya näherten sich dem Mittelschloss, einem Backsteinkomplex, der das Hauptschloss von der Vorburg trennte. Seitlich von dem Eingangstor hingen zwei Banner von den roten Wänden herunter. Links hing eine der Marusya bereits bekannten Hakenkreuzflagge, rehts eine schwarze Dreieckflagge mit zwei roten und weißen Rauten, in deren Mitte sich ein Hakenkreuz befand. Was dieses Symbol wohl bedeutete, das überall zu sehen war? Und was hatte es mit dieser Dreiecksflagge auf sich?

Wolf führte sie durch das große Eingangstor und dann über den Platz, der von dem Mittelschloss eingerahmt wurde. Im Zentrum war eine Flagge gehisst worden. Nervös, doch zugleich auch stolz flatterte ein Hakenkreuz in dem unruhigen Wind. Als sie hinaufblickte empfand Marusya Abscheu, jedoch auch eine Faszination, die sie sich selbst nicht erklären konnte. Von dem Zeichen schien eine seltsame Stärke auszugehen. Ein Symbol, hinter dem sich die Deutschen vereint hatten. War jeder Deutsche so stolz auf sein Land, dass sie so gerne die Fahnen zur Schau stellten? Wussten sie, welche Verbrechen ihre Armee in ihrem Namen verübte? Aber was war, wenn es den Deutschen egal war, welches Leid ihre Armee über die Welt brachte? Wenn sie es in Kauf nahmen, vielleicht sogar befürworteten? Es war doch bei einer Armee, die groß genug war um die Rote Armee zu überrennen, unmöglich, sämtliche Gräueltaten zu vertuschen. Irgendetwas musste doch nach außen dringen. Aber warum war Wolf dennoch von allen freundlich gegrüßt worden? Warum gingen die Menschen einfach weiter ihren Tätigkeiten nach, als würde im Osten nichts geschehen? Als würde kein Mörder unter ihnen sein?

„Marie!" Der auffordernde Ruf riss Marusya aus ihren Gedanken. Sie schauderte, als sie Wolf zu einem Gebäudeteil im Mittelschloss folgte, der durch die Größe und den kleinen Turm hervorstach. Und hier wollte Wolf sie hinbringen? Wohnte er hier? Oder würden sie am Morgen wieder wegfahren, immer weiter von ihrer Heimat fort? Sie verstand nicht, was in den Köpfen der Deutschen vorging, aber sie musste konzentriert bleiben. Sie war noch immer in einer gefährlichen Situation und konnte es sich nicht leisten, einen Fehler zu machen.

Wolf klopfte an der Eingangstür und wartete. Nach einigen Augenblicken öffnete eine junge Frau. Sie war groß gewachsen und hatte ein hübsches, schmales Gesicht. Die hellblonden Haare waren hinten zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Trotz der himmelblauen Farbe strahlten ihre Augen eine beruhigende Wärme aus. „Heil Hitler", sagte die junge Frau freundlich und mit einem fragenden Unterton. Als ihr Blick von Wolf zu Marusya wanderte, warf sie ihr ein freundliches Lächeln zu. Marusya vermied direkten Augenkontakt, schaute aber immer wieder verstohlen zu der jungen Frau.

„Könnte ich bitte Frau Heller sprechen?", fragte Wolf. Der Blick der Frau sprang zu ihm zurück und zuckte von seiner Narbe zu seiner Uniform. Schnell stammelte sie ein „Sofort, mein Herr" hervor und bat die beiden Ankömmlinge eilig herein. Sie bot ihnen die Stühle im Eingangsbereich als Sitzgelegenheit an und verschwand anschließend hinter einer der Türen. Vorsichtig schaute Marusya sich um. Überall hingen Banner und Hakenkreuzsymbole an den Wänden. Gegenüber von dem Eingang befand sich eine Doppeltüre. Darüber hing eine Fotographie eines Mannes, der wie Wolf eine Totenkopfmütze trug und darunter prangte erneut der Schriftzug „Dem deutschen Blute", zusammen mit dem Namen des Mannes: Heinrich Himmler.

Marusya [Pausiert]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt