Kapitel 1

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„Und wehe, du kommst nicht an Weihnachten heim." Ich gebe Dina einen letzten Handschlag, bevor sie in den Zug steigt. Der einzige Zug, der hier zwei mal am Tag hält und auch umdreht. Die Türen schließen sich. Ein letztes Mal sehe ich Dina noch winken, bevor die rote Bahn sich in Bewegung setzt und davonzuckelt.
Da waren's nur noch neun, sagt eine Stimme in meinen Kopf. Dinas kleiner Bruder Lukas schüttelt den Kopf, sodass seine Mähne durch die Luft fliegt. Gut, was heißt klein? Lukas hat inzwischen als Mensch stolze 1,88m erreicht und ist in seiner zweiten Gestalt als Shire Horse sogar noch größer. Und das, obwohl er zwei Jahre jünger ist als ich. Aber immerhin ist er unser Taxi für alle Fälle. so wie heute, um seine Schwester und einen Haufen seiner Freunde an den kleinen Bahnsteig zu bringen, der etwas außerhalb unseres kleinen Dorfes liegt. Der 200 Seelen Ort aus Fachwerkhäusern, Gärten und Scheunen schmiegt sich eng an den Waldrand, in dem wir vermutlich mehr Zeit verbracht haben, als zuhause.

Wir müssen schon einen komischen Anblick bieten, wie wir hier am Bahnsteig stehen. Eine Reihe aus Freaks, würde man uns anderswo nennen, aber uns sieht ja keiner, also wer sollte uns so nennen?
Neben Lukas mit der Kutsche steht Max, aka mein bester Hundekumpel, daneben ich, Hund Nummer zwei im Bunde. Auf meiner Schulter hat es sich Jule bequem gemacht. Ihre Blaumeisenenfedern kitzeln mein Ohr leicht, als sie mit den Flügen schlägt. Flora, meine Schwester, sitzt auf dem Kutschbock, neben ihr sitzt Jules große Schwester Chiara, genannt Kiki. Beide hat das gleiche Schicksal getroffen. Keine Wandlergene. Aber das heißt hier nicht viel.
Genau so, wie es in Wildbergen okay ist, ein Wandler zu sein, ist es auch okay, keiner zu sein. Die beiden haben noch das große Glück, Gedankensprache hören zu können.
Nicht viel besser hat es Fritz getroffen. Als Bachforelle verwandelt er sich nicht oft, hat aber dafür schon mit 17 fancy graue Haare. Die letzten zwei im Bunde sind Hannah und Nelly. Stallkatze und Zauneidechse. Vom Aussehen her so unterschiedlich wie Tag und Nacht, charakterlich unfassbar ähnlich.
Und das sind wir. Die Wilden. Ja, das klingt wie ein Abklatsch von den wilden Kerlen, aber so hießen wir schon immer und daran würde sich auch nichts ändern

Aber genug der Vorstellungen. Das kann sich ja eh kein Mensch merken.
Unser Zug setzt sich wieder in Bewegung in Richtung Dorf. Lukas' Hufe knirschen auf dem Asphalt. Es fühlt sich komisch an, dass jetzt einer von uns fehlt. Dina macht ein Auslandsjahr. In Schweden. Und damit sind wir nur noch zu neunt.
Ich werfe einen Blick auf die rote Kirchturmuhr. Erst halb drei.
„Ich glaub, ich geh nochmal zum Bauwagen, die Bänke weiter bauen.", werfe ich in die Stille ein. Es folgt zustimmendes Gemurmel. „Ich hol nur vorher noch Holz vom Weber. Ich brauch ja ned so viel. Es fehlt ja nur noch die kleine Bank."
„Wir müssen mit helfen Scheune ausräumen." Nelly zeigt auf sich und ihre Schwester. Mit 15 ist sie die jüngste in unserem Bunde. „Aber danach können wir ja noch kommen."
Wir wollten erst noch zum Edeka. Nach Rieth, meldet sich Lukas zu Wort. Mit „wir" meint er vermutlich die anderen beiden Jungs und sich. Wir müssen ja heute Abend auf die Ferien anstoßen.
Ich hebe die Brauen. „Wir haben doch noch einen ganzen Kasten im Wagen. Und ob ich jetzt auf dein und Max' Zeugnis anstoßen würde, weiß ich jetzt ned."
Außerdem habt ihr schon seit zwei Wochen Ferien, wirft Jule von meiner Schulter aus ein.
„Jetzt mach's ned kaputt. Freut euch doch, dass wir für euch einkaufen gehen.", kontert Max.
Ich verdrehe die Augen, während wir das Ortsschild passieren. „Habt ihr jemanden mit Ausweis, der mitgeht. Mit euren 16 und 17 verkaufen die euch doch nix. So doof sind die ned."
Flora hebt die Hand. „Ich geh mit. Und pass auf die Jungs auf."
„Gut so.", murmele ich. Ich mag die drei Jungs echt gerne, aber wenn man sie zu lange alleine lässt, dann endet das selten wirklich gut. Und bei Flora kann man sich eigentlich immer darauf verlassen, dass sie die Jungs gezügelt bekommt. Flora ist Malerin im bald dritten Lehrjahr und zwei Jahre älter als ich. Mit 20 ist sie damit mit Abstand die älteste Wilde und oft die Stimme der Vernunft. Außer nach einem halben Glas Vodka. Da wirft sie auch mal gerne andere in den kleinen Seitenarm der Linder, die durch unser Dorf und den angrenzenden Wald fließt. Erlebnis frei erfunden. Vielleicht. Das Wasser war kalt.
„Ich helf bei euch mit." Kiki zeigt auf Nelly und Hannah. Ihre Schwester auf meiner Schulter nickt bekräftigend.

Und so trennen sich unsere Wege schließlich. Die Kutsche mit den drei Jungs und Flora dreht um, um ins Nachbardorf zu fahren. Rieth ist der nächste größere Ort hier. Mit dem Fahrrad braucht man fast eine halbe Stunde. Mit der Kutsche natürlich noch länger.
Die anderen vier Mädels verabschieden sich vor einem gelben Fachwerkhaus mit angrenzender roter Scheune von mir. Und so klopfe ich schließlich alleine an den Scheunenbalken am anderen Ende des Dorfes. Der Balken gehört zur Scheune, in der der Weber seine Werkstatt hat. Ich mag die Scheune. Die Äste der Eichen, die den Waldrand bilden, ragen weit über den Hof und spenden angenehmen Schatten in der Sommerhitze. Nach den Ferien werde ich jeden Tag hier sein. Mein BGJ habe ich jetzt überlebt. Ein Jahr Berufsschule war die Hölle, aber bald darf ich endlich das machen, worauf ich mich schon immer gefreut hatte. Jeden Tag in der Werkstatt stehen und Schreinern. Sägen, dübeln, schleifen, den ganzen Tag. Ein Traum.
Die Sonne, die durch die Fenster scheint, wirft Streifen durch den Staub, der durch die Werkstatt schwebt. Überall liegt Werkzeug, obwohl ich immer wieder aufräume, wenn ich zum Arbeiten da bin. Kein Wunder, dass Weber hier nie etwas findet. Auf zwei unfertigen Gartenbänken steht ein fertiger Tisch. An der Wand lehnen mehrere Teile für Stühle und für eine Garderobe. Aber trotzdem fühlt es sich jedes Mal an, als würde ich nach Hause kommen, wen der Geruch nach Sägemehl in meine Nase dringt und sich mit dem Geruch von Harz aus dem Nadelholz mischt.
Mein zukünftiger Ausbilder hebt den Kopf von seiner Arbeit, als ich mit Nachdruck erneut an den Balken klopfe.
„Ah, Lea!" Er legt den Schleifer zur Seite und schüttelt sich das Sägemehl aus den angegrauten Haaren. „Kommst du, um mein Holz und mein Werkzeug zu entführen?"
Ich muss grinsen. „Nee, nur dein Holz. Werkzeug hab ich ja jetzt mein eigenes."
Er lacht kurz, bevor er voraus zum Stapel mit dem Restholz geht. Zielgenau zieht er ein Stück Fichte heraus. An einer Seite hat sie eine Runde Schnittkante. „Das kannst du nehmen. Du meintest ja, das muss nicht so lang sein."
Ich nicke nachdenklich und ziehe meinen Meterstab aus meiner knielangen Arbeitshose. In krakeligen Buchstaben ist mit Edding Bieröffner quer über den Meterstab geschrieben. Ein Verdienst von Max. Auch ein Verdienst von Max ist, dass man an einer Stelle die Zahlen nicht mehr lesen kann, weil der Lack dank zahlreicher Kronkorken ziemlich abgekratzt ist.
„90 auf 40, das sollte passen. Sonst kürz ichs mir noch runter."
„Na dann, viel Spaß, kleiner Stift." Weber klopft mir noch auf die Schulter, bevor ich dem Kabel folge, was von seiner Scheune in den Wald führt. Weber ist auch ein Wandler, aber er verwandelt sich nicht mehr. Seine zweite Gestalt kenne ich nicht einmal, aber ich habe ihn auch nie danach gefragt. wenn er darüber reden will, dann wird er das schon tun.
Nach wenigen Minuten, die ich dem kleinen Trampelpfad gefolgt bin, erreiche ich endlich mein Ziel. Unseren alten Bauwagen.

Wildbergen || WoodwalkersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt