Kapitel 6

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„Hier, ich." Ich setzte mich auf und ziehe so Jule mit nach oben. Nachdem sie eh deutlich kleiner und leichter ist als ich, ist das für mich nicht gerade anstrengend. Beim Aufsetzen merke ich aber, dass sich die Welt ein kleines Stückchen dreht. Ich blinzele kurz, um das Gefühl los zu werden.
Nelly grinst mich an, während sie ihre Karten aufnimmt. „Na, kickt dein Gesöff?"
„N bisschen." Ich nehme die dritte Karte nach oben, die gerade vor mir im Laub landet. „Also mischen kannst du auch nicht oder?", fragte ich Lukas. Auf meiner Hand habe ich eine Laub Sieben, eine Eichel Neun und einen Herz Unter.
„Kann ich auch nicht...", murmelt Jule neben mir, die gerade nach einem Schluck von ihrer Mische noch mehr Cola in den Becher schüttet.
„Also meine Mische letztes Mal war schon deutlich durchsichtiger.", merkt Max an, bevor er eine seiner Karten gegen eine in der Mitte tauscht.
„Kann scho sein, aber ich hab jetzt nur wenig Bock zu kotzen.", erwidert Jule und schnappt mir das Herz Ass weg.
„Blödvogel.", murre ich.
„Köter.", kommt es zurück.
„Jetzt tauschen, schieben oder Schneemann bauen. Mach.", kommt es von meiner anderen Seite.

Nach einer Runde entscheiden wir, dass Schwimmen noch zu langweilig ist.
„Lieber UNO?", schlage ich vor.
„Aber mit Blün.", wirft Max ein.
Oh nein, bitte nicht Blün, Hannah hat sich auf dem Schoß von meiner Schwester zusammengerollt.
„Ich glaub, auf dem Pegel von Blün sind wir dann doch noch nicht angekommen." Ich hüpfe mit der Schachtel wieder aus dem Bauwagen und lasse mich zwischen Max und Nelly in den neu geformten UNO-Kreis fallen.
„Du vielleicht noch nicht.", murmelt Lukas.
„Es ist grad mal dunkel geworden und du bist scho auf dem Pegel für Blün?" Ich hebe meine Augenbrauen, während ich die Karten mische.
„Holt den Kübel raus." Jule verdreht die Augen.
„Regel Nummero 5", zitiert Nelly das Blockblatt, das an unserem Alkschrank hängt. „Gekotzt wird ins Gebüsch oder in den Kotzkübel."
„Bisher hat sich da auch jeder dran gehalten." Ich bemerke Jules Blick, der zu Max wandert. „Ja, okay. Fast jeder."
„Aber es war knapp." Max nimmt die Karten, die ich ihm austeile.
Ich schnaube. „Ja." Dann halte ich meine Hände circa andertalb Meter auseinander. „So knapp neben den Kübel."
Er boxt mich gegen die Schulter, wofür er von mir eine Kopfnuss kassiert.
Seid ihr schon wieder auf eurem Prügelniveau angelangt?, fragt Hannah trocken.
„Ich noch ned." Entschlossen lege ich den Kartenstapel ins Laub und drehe die oberste Karte um.
„Wie immer?", fragt Fritz.
„Wie immer.", kommt es einstimmig zurück.
„Und heute gibts keine Blaumeisenschlücke für Jule." Max sortiert seine Karten. Natürlich wie immer so, dass ich sie sehen kann. Zwei 4+ hat er bekommen. Na das wir da eine spaßige Runde für mich. In weiser Voraussicht mache ich meinen Becher wieder mit Korea voll.
„Zum dritten Mal, ich hab keinen Bock zu kotzen.", verteidigt Jule sich.
„Ich kann dich ja heimtragen, wenn du nicht mehr laufen kannst." Max grinst und ihre Blicke treffen sich. Einen irgendwie viel zu langen Moment.
„Letztes Mal, als Jule schon am Schwanken war, warst du so dicht, dass du als Hund komplett auf mir drauf eingepennt bist.", bemerke ich trocken, während ich meine gelbe 2+ in die Mitte pfeffere.
„Och nee." Nelly zieht zwei Karten, bevor sie einen Schuck aus ihrem Becher nimmt.
„Ab zehn ziehen muss man exen, oder?", fragt Fritz.
„Ich dacht ab zwölf?" Jule beäugt ihr Gemisch etwas erschrocken.
„Macht doch eh keinen Unterschied, ob du zehn trinkst, oder alles runtersäufst." Lukas wirft eine seiner Karten auf den Haufen in der Mitte.
„Nur weil du Vodka Malibu ext, als wär es Kaba, muss das ja ned jeder machen.", entgegnet Jule.
Ich seufze. „Mach doch jeder einfach so, wie er meint. Bringt doch jetzt n Scheiß, da ewig drüber zu diskutieren."
Für die Aussage bekomme ich einerseits anerkennendes Nicken, aber auch eine 4+. Wortlos nehme ich -meinem Schicksal ergeben- zwei große Schlucke, ziehe vier Karten und lege dann zwei blaue Dreier.
„I will nimmer." Nelly zieht eine Karte.
Tröstend klopfe ich ihr auf die Schulter. Beim Blick auf meine Hand fällt mir auf, dass sie definitiv deutlich zu pelzig ist. Schnell führe ich meine gewohnten Checks durch. Ohren noch normal. Kein Schwanz. Kein Fell am Rücken. So weit gut. Mit ein wenig mühsam aufgebrachter Konzentration verschwindet auch das Fell an meiner Hand.

Das Wandlerdasein ist einer der Gründe, aus dem kaum jemand von uns außerhalb von Wildbergen Alkohol trinkt. Es ist einfach zu gefährlich. Würde ein Haufen besoffener Teenager das Geheimhaltungsgesetz brechen, dann wäre das doch sehr suboptimal.

Ich spüre, wie sich bei mir langsam der übliche Müdigkeitskick einstellt.
And I said 'wait just a little while and tell me where you've been'", singe ich leise mit, während ich Max zu meinem Kopfkissen zweckentfremde. Wie durch Gedankenübertragung lehnt sich Nelly im gleichen Moment an mich. Es ist fast schon ironisch, wie sehr ich mich mittlerweile an das Gefühl von Max' Schulter gewöhnt habe. Als sehr anhänglicher Mensch habe ich schon viel zu oft auf, neben oder unter den anderen Wilden geschlafen. Ich kann Max' leicht sehnige Schulter genau von Fritz' knochiger, oder Floras Muskulöser unterscheiden. Wenn Nelly an mir lehnt, trägt sie immer noch ihr eigenes Gewicht ein bisschen. Ganz anders als Jule, die meist zwei Sekunden, nachdem sie sich an irgendwen lehnt, sofort einpennt.
„Lea, du bist schon seit locker zwei Minuten dran." Max tippt mir mit der freien Hand auf den Hinterkopf.
Sofort öffne ich die Augen. Wann ich sie zu gemacht habe, weiß ich nicht einmal mehr.
Während ich eine meiner Karten auf den Haufen segeln lasse, lege ich meinen freien Arm um Nelly und schaue wie aus Reflex auf Max' Handy, das er gerade aus der Hosentasche gezogen hat.
„Die Zoe macht sich aber au echt Hoffnungen." Irritiert betrachte ich das Selfie mit dem weirden Teufelfilter.
„Ja, wer wär denn bitte nicht gerne mit mir zusammen." Max grinst, während er gnadenlos ein Selfie von unserem Menschendomino zurückschickt.
„Die mögen doch eh alle nur deine Haare.", murmelt Nelly.
„Natürlich wäre ich total gerne mit dir zusammen. Am besten auch gleich heiraten und Haus kaufen." Ich versuche so viel Ironie in meine Stimme zu legen, wie ich nur kann.

Dass die Ironie vielleicht gar nicht so echt ist, merkt hoffentlich keiner...

Wildbergen || WoodwalkersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt