Kapitel 4

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Mit einem lauten Platschen landet Max genau vor mir im plätschernden Wasser des Flusses. Ungebremst und mit voller Wucht lande ich genau auf dem Australien Shepard, der gerade versucht, wieder aufzutauchen. Nur wenige Sekunden später folgen Arschbomben und Kopfsprünge überall um uns herum.
Es ist so chaotisch wie immer. So chaotisch, dass wir wie so oft die Zeit vergessen.

Die Kirchturmuhr reißt mich aus meinen Gedanken, während ich gerade versuche, auf Nellys Schultern zu klettern.
Scheiße. Leute, es ist halb sechs! fluche ich in die Köpfe der anderen.
Zurück kommt eine einstimmige Mischung aus Fuck und Bockmist.
Ich drücke beide Daumen dafür, dass Kiki und Jule keinen Stress bekommen, während sie vor uns durch den Wald richtung Dorf sprinten. Würden die beiden heute Abend fehlen, dann wäre das echt schade.

Flora und ich haben zum Glück keinen Stress. Wir machen eh das Abendessen. Mama ist wie so oft nicht da und Papa isst eh alleine. Er ist seit seiner Jugend überzeugter Veganer. Das klingt jetzt, als würde ich das schlimm finden, nein. Aber vegane Ernährung macht leider weder Floras Körper durch ihre Dauerbelastung auf der Arbeit, noch meine Hundeverdauung mit. So sind wir beide nur halbe Vegetarier. Fleisch gibt es wirklich nur selten und wenn, dann nur aus dem Dorf, wenn geschlachtet oder gejagt wird.
Meine Pfoten tappen über das, von der Abendsonne aufgeheizte Kopfsteinpflaster des Gehsteigs. Vorbei an der Scheune vom Huber, dem grünen Fachwerkhaus, in dem Lukas mit seiner Familie wohnt, vorbei an unserem Dorfplatz mit dem Brunnen und vorbei am Gartentor von Kiki und Jule. Unser Doppelhaus ist recht beschaulich. Eine alte Scheune, durch die in der Mitte eine Wand gezogen wurde, um so zwei Familien Platz zu bieten. Weiß gestrichen, nur mit roten Balken. Nur unsere Gärten könnten verschiedener nicht sein. Der eine zugewuchert und voller Unkraut, der andere sauber und gepflegt. Drei Mal dürft ihr raten, welcher zu wem gehört.
Flora schiebt unser Gartentor auf, während ich mit einem eleganten Sprung über den Zaun hinwegsetze. Sie verdreht die Augen „Angeberin".
Ich grinse, so gut das als Hund eben geht und warte darauf, dass meine Schwester die Tür aufschließt. Floras Brille ist ihr ein wenig nach unten gerutscht und ihre nassen, braunen Haare kleben an ihrer Stirn, aber sie sieht glücklich aus. Es tut ihr genau so wie mir gut, wieder aus dem Alltag zu kommen. Einfach wieder frei zu sein. Sie ist nicht so der Typ für großen Trubel, aber die Wilden sind ihr wohl doch ans Herz gewachsen und inzwischen ist sie nicht mehr nur für mich die coole große Schwester, mit der man alles machen kann.

Pünktliche fünfeinhalb Minuten nach halb sieben stehen wir wieder am Bauwagen. Und sind natürlich die Ersten. Pünktlichkeit war noch nie die Stärke unserer Freundesgruppe. Mit einem Seufzer stelle ich die Rührschüssel mit dem Stockbrotteig auf den Boden neben der Feuerstelle. Ein kleiner Kreis aus Kohle, eingerahmt von nicht zusammenpassenden Pflastersteinen.
Gemeinsam schichten wir Holz auf, das wir unter dem Bauwagen lagern. Gerade, als ich die Packung mit den Streichhölzern aus meiner Hosentasche ziehe, knacken Äste in der Nähe. Nelly kommt auf die Lichtung, dicht gefolgt von Hannah, in ihrer schwarzen Katzengestalt.
„Und, was sagt die Uhr?", frage ich, während ich das Streichholz über die Schwefelfläche ratsche.
Nelly murrt nur und fährt sich mit den Händen durch die dunkelblonden Haare.
Irritiert hebe ich die Augenbrauen. Die Birkenrinde fängt Feuer.
Sie will sagen, dass wir bis halb zwei bleiben dürfen, antwortet Hannah anstelle ihrer Schwester. Flora streicht ihr, wie aus Reflex über das Rückenfell, als sie sich an ihr vorbeischiebt, um mit der kleinen schwarzen Nase an der Schüssel mit Teig zu schnuppern.
„Hä, passt doch." Sanft puste ich in die Flamme. „Besser halb zwei, als eins."
Nelly lässt sich neben mich auf den Boden fallen. „Ich check einfach nicht, warum wir nicht auch bis in die Früh bleiben können. Hannah ist sogar älter als Max und Lukas und die dürfen immer so lang wie sie wollen." Frustriert zerbricht sie einen kleinen Kiefernast und wirft ihn in das kleine Feuer, was jetzt prasselt und kleine Funken sprüht.
„Die machen sich doch sicher nur Sorgen. Und manchmal dürft ihr doch auch länger bleiben.", wirft Flora ein. Hinter ihr kommen Fritz und Lukas aus dem Wald, die sich augenblicklich in unseren Kreis gesellen.
„Wer macht sich Sorgen um wen?", fragt Fritz.
Unsere Eltern, antwortet Hannah. Daheim sein um halb zwei.
Lukas verzieht das Gesicht. „Schmutz. Ihr seid doch alt genu-" Sein Blick fällt auf Nelly. „Also du bist alt genug, Hannah."
Nellys grau-grüne Augen verengen sich zu messerscharfen Schlitzen. „Halt die Schnauze, du Hodenkobold. Ich bin nur ein Jahr jünger als du. Sogar nur ein dreiviertel Jahr."
Lukas zuckt die Schultern. „Hast halt die falschen Eltern abbekommen."
Endlich stoßen auch unsere letzten Geschwisterkinder dazu. Jule lässt sich auf meine andere Seite fallen.
„Zweie. Und dafür morgen das Bad putzen und auf dem Dachboden aufräumen. Der Abend ist es besser wert.", murmelt sie.
Ich klopfe ihr auf die Schulter. „Wo ist eigentlich Max, der Sack? Kommt der wieder seine obligatorischen 25 Minuten zu spät?"
„Vermutlich." Jule zuckt die Schultern. „Macht er doch immer."
„Da hat man eh so wenig Zeit und der Arsch kommt auch noch zu spät. Ich werf den an seinen Hundeohren in den See, wenn der endlich da ist.", sagt Lukas, der ungeduldig die Spitze von seinem Stockbrotstecken wieder sauber schnitzt.
Ich ziehe mein Handy aus der Hosentasche, in der Hoffnung, vielleicht eine Nachricht von ihm bekommen zu haben. Ich gebe es nicht gerne zu, aber ich freue mich jedes mal ein bisschn zu sehr, wenn der Name Max Kundehumpel auf meinem Display auftaucht. Aber meine Nachrichten sind nur Snaps von anderen Wilden. Einen nach dem anderen öffne ich ihn.
„Ihr verschickt doch jetzt nicht all ernsthalft Snaps von meinem Feuer.", entrüste ich mich gespielt.
Jule grinst. „Was willst du tu-hun?"
„Ich frag Hannah, ob sie nach ihrem Stockbrot noch einen Nachtisch will?"
„Untersteh dich!"

Endlich knackt das Unterholz ein weiteres Mal und neben Jule lässt sich Max fallen.
„Es lebt, stellt euch vor.", spottet Nelly.
„Ich musste noch ess-"
„Juckt nicht.", unterbreche ich ihn. Egal was ist, immer hat er eine Ausrede zu spät zu kommen. Inzwischen wiederholen sie sich.

Wenige Minuten später hält jeder einen Becher, oder eine Flasche in der Hand. Das Feuer prasselt fröhlich vor sich hin und wärmt weiter, obwohl die Sonne langsam verschwindet.
„Auf den Sommer!" Lukas hebt seine Flasche.
„Auf den besten Sommer.", korrigiere ich.
„Auf den besten Sommer!", schallt es durch den Wald in die untergehende Sonne. Ja, auf den besten Sommer. Aber es kommt ja immer anders, als man denkt...

Wildbergen || WoodwalkersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt