Kapitel 7

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Ich gebe es ungern zu, aber ich habe doch deutlich mehr für Max übrig, als ich zugeben will. Das wird mir ein Mal mehr bewusst, wie ich an seiner Schulter lehne, wie so oft. Einen Arm um Nelly gelegt, die mittlerweile alle ihre Karten los geworden ist und die Augen geschlossen hat. Stumm starre ich in die lodernden Flammen, die tanzende Schatten auf die Bäume rings herum werfen. Ich kann nicht genau sagen, wann es angefangen hat. Max und ich kennen uns, seit wir auf der Welt sind, aber wir waren immer nur befreundet. Fast wie Geschwister.
In seinen Augen sind wir das wahrscheinlich immer noch, aber ich kann es nicht abstellen, dass meine Gedanken in jeder freien Minute zu ihm wandern. Dass ich mich dabei erwische, wie ich seinen Standort auf Snapchat nur zufällig sehe. Oder, dass es mir jedes mal einen Stich der Eifersucht versetzt, wenn er wieder mit irgendeinem anderen Mädchen anbandelt.

Ich werfe eine meiner Karten in die Mitte. Aber damit würde ich fertig werden müssen. Jule und ich hatten uns vor neun Jahren einen Blutschwur gegeben. Noch in unserer alten Bretterbude hatten wir uns jeder mit meinem Schnitzmesser einen Schnitt in die Handfläche gesetzt und uns mit Händedruck geschworen, dass uns nichts und niemand auseinanderbringen würde. Schon gar keine blöden Jungs.
Damals hatten wir ja noch nicht ahnen können, dass dieser blöde Junge ausgerechnet einer von unseren besten Freunden sein würde. Genau deshalb hatte ich Jule auch nie erzählt, dass ich Max doch deutlich lieber mag, als ich zugeben kann. Und das, obwohl wir uns sonst alles erzählen. Wobei ich auch bei Jule in letzter Zeit das Gefühl habe, dass sie mir etwas verschweigt. Stumm sehe ich dabei zu, wie sie den Rest ihres Bechers leert und das Gesicht verzieht. Anscheinend hat sich der Wodka abgesetzt.
Lukas auf der anderen Seite des Feuers hebt die noch halb volle Glasflasche mit dem blauen Etikett hoch und wirft Jule einen fragenden Blick zu. Diese nickt, nach kurzem Zögern. Auch das hätte Jule früher nie gemacht.

Entschlossen hebe ich meinen Kopf von Max' Schulter. „Bist du dir sicher?", frage ich Jule, die gerade ihren Becher noch einmal fast drittelvoll macht.
Sie zuckt die Schultern. „Hab ja noch n paar Stunden. Wird schon gehen."
Besorgt beobachte ich den schon leicht abwesenden Blick in ihren Augen.
„Aber mach langsam. Bitte."
„Bist du plötzlich ihre Mutti geworden oder was?", kommt es leicht spöttisch von Max.
Mein Kopf schnellt zu ihm herum und mein Blick bringt ihn zum Schweigen. Er ist der einzige, bei dem das funktioniert. Alle anderen sind normalerweise von meinem versuchten Todesblick, der dem eines Welpen sehr ähnlich ist, eher belustigt.
„Ich weiß schon, was ich mach.", sagt Jule. „Hos dir mal nicht in die Scheiße."
„Du hast Federn auf dem Kopf.", sage ich nur, bevor ich mich wieder normal hinsetze.

Das meinte ich damit, dass Jule anders geworden ist. Uneinsichtig. Störrisch. Als würde sie versuchen, vor den anderen so zu wirken, als hätte sie immer Ahnung von Allem. Und das als Mensch, der einen Dachskiefer nicht von einem Fuchskiefer unterscheiden kann. An sich ist das ja nichts schlimmes, die Wenigsten können das, aber die Kunst besteht darin, es zuzugeben, wenn man etwas nicht weiß, oder, dass man im Unrecht war. Und das kann Jule in letzter Zeit absolut nicht.
Max konnte das noch nie, obwohl ich ihm seit anbeginn der Zeit zu erklären versuche, warum Einsicht so wichtig ist, aber bei ihm ist der Zug da wohl schon mehr oder weniger abgefahren.

„Uno Uno.", beendet Fritz mit sich selbst das Spiel.
„Jemand Bock auf Klopfer?", fragt Lukas sofort.
Die Schachtel wird durch unseren Kreis gereicht. Sekunden später ertönt das dumpfe Geräusch von kleinen Flaschen, die auf den Boden, oder wahlweise auf die eigene Kniescheibe geklopft werden.

Die Zeit läuft wie immer merkwürdig. Es kommt mir so vor, als würden wir schon ewig hier sitzen dabei ist es gerade ein mal kurz nach zwölf.
Nelly ist mit ihrem Kopf auf meinem Schoß seelenruhig eingeschlafen. Hannah hat sich an ihrem Bauch zusammengerollt und schnurrt leise im Schlaf. Sanft streiche ich Nelly die Haare hinter die Ohren, bevor ich von beiden ein Bild mit der Beschriftung „korzer Powernap" in unsere Snapchatgruppe schicke.
Max neben mir tippt auf seinem Handy herum.
„Die hat mich schon wieder gefragt, ob ich morgen Zeit habe.", murmelt er.
Jule neben ihm leert gerade ihren Becher in einem Zug und seufzt nur.
„Wer?", frage ich, mit vor Ironie triefender Stimme. „Lina, Zoe, Diana? Oder wie hießen sie gleich doch alle?"
„Jetzt sei doch ned immer gleich so empfindich. Und fang ned immer damit an.", erwidert er störrisch.
Ich schnaube. „Sorry, Cassanova, aber du fängst doch immer an zu erzählen, wer so alles auf dich steht. Brauchst dich ned wundern."
„Dir erzähl ich gar nix mehr."
„Machst du doch trotzdem."
„Stimmt auch wieder."
Jealousy, turning saints into the sea. Swimming through sick lullabies...", singt die Box auf der anderen Seite des Kreises. Ich fange wieder an leise mitzusingen. Es ist eines meiner Lieblingslieder. Während ich nur leise mitsinge, singen Flora, Kiki, Fritz und Lukas aus voller Kehle. Vor allem Fritz scheint auf einem Level angekommen zu sein, auf dem es ihm egal ist, dass er nicht wirklich gut singen kann. Er hat sich ein Stück Brennholz geschnappt und benutzt es als eine Art Mikrofon.

Mein Blick wandert zu Jule. Mein Hundeinstinkt sagt mir, dass bei ihr ganz gewaltig etwas nicht stimmt. Vorsichtig hebe ich Nellys Kopf von meinen Beinen und lege ihn auf den Boden. Dann stehe ich auf und gehe zu meiner besten Freundin, die die Beine angewinkelt hat und den Kopf in den Armen verbirgt. Unter Max' nicht wirklich identifizierbarem Blick tippe ich ihr sanft auf die Schulter.
„Ist alles okay bei dir?", frage ich leise.
Sie hebt den Blick. Hätte ich einen Kotzalarm, würde dieser jetzt anspringen. Kurzentschlossen lege ich mir ihren Arm um die Schultern und hebe sie mehr oder weniger hoch. Der Blick ihrer Schwester folgt uns besorgt, während ich Jule zum Rand der Lichtung führe. Keine Sekunde zu spät.
Hinter ein paar jungen Tannen verabschiedet sie sich wieder von ihrem Stockbrot. Schnell binde ich ihre Haare zu einem Zopf und bringe sie vorsichtig dazu, sich hinzusetzen.
„Sorry.", murmelt sie. Ihre Stimme bricht.
„Ist okay, nichts passiert." Der Geruch der Magensäure ist vor allem für meine feine Nase stechend, aber nichts, womit ich nicht fertig werden würde.
„Ich wollte doch gar ned kotzen."
Während sie sich noch von der zweiten Hälfte ihres Stockbrotes verabschiedet, klopfe ich ihr beruhigend auf den Rücken. „Des will keiner. Aber passiert halt."

Auf Jules andere Seite kniet sich Kiki. In der einen Hand eine Rolle Zewa, in der anderen einen Becher Wasser. Ich bin froh, dass sie da ist. Aus irgendeinem Grund ist Kiki der absolute Profi in Sachen Kotzbetreuung. Deshalb nennen wir sie auch unsere soziale Einrichtungsstelle.
„Wenn du nicht mehr musst, dann sag bescheid, dann bringen wir dich aufs Sofa." Kiki gibt ihrer Schwester den Becher. Diese nickt nur.
Mit einem Seufzer ziehe ich Jules Zopf ein bisschen fester. Na das war ja schon mal ein gelungener Ferienanfang.

Wildbergen || WoodwalkersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt