Ein Höllenritt

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Den kannst du nicht mit bloßen Fäusten besiegen. Du musst deine Kräfte wecken!, klingelte Dreckstücks Stimme in meinem Kopf.
„Welche Kräfte, Mann?", brüllte ich, während die Luft vibrierte. Aus allen Ecken sammelten sich die Schatten, umsponnen das Monster aus Finsternis, überzogen es wie dunkle pulsierende Adern und pumpten Kraft in sein Inneres.
Zwei lange Hörner bildeten sich vor einem massiven Kopf, graue Haut spannte sich über Adern, Fleisch und Muskeln und vier abgewinkelte Gliedmaßen auf schwarzen Zehen erkannte ich, als sich der Rauch nach und nach zurückzog. Und dann war da eine Fratze, ein entstelltes Antlitz, das mehr wie eine Maske mit einem Hornpanzer am oberen Stirnrand erinnerte. Leere Augenhöhlen starrten mich an, das Gebiss war das eines Menschen, doch es besaß keine Lippen. Und als es mich zu registrieren schien, erschütterte ein Brüllen den Raum.
Irritiert starrte ich es an. Das Geräusch war nicht aus seinem Maul gekommen.
Verdammt Bo! Du musst deine Kräfte sammeln! Deine Seele! Ruf nach ihr! Sonst sind wir beide gleich tot!, kreischte Dreckstück.
Bist du bescheuert, ich kann nicht sterben!, erinnerte ich ihn.
Das ist ein Umbra zweiter Stufe, das ist kein gewöhnlicher Schatten! Seine Stimme überschlug sich. Du bist durch deine Reinigung ein Licht geworden. Schatten können Menschen nicht direkt töten, aber Lux können sie eliminieren, wenn sie stark genug sind! Und wenn du keine Lichtwaffe besitzt, ist er das!
Was?! Das hättest du mir etwas früher sagen können!
Das Vieh brüllte erneut und senkte den Kopf, sodass er die beiden Hörner auf mich richtete. Mark Knopfler ergänzte: „Money for Nothing, Chicks for free!"
Scheiße. „Wie mache ich das?!"
Du musst deine Seele finden und sie rufen! Schnell!
Junge, das ist keine Antwort! Was soll das heißen?!
Das Monster scharrte mit den Zehen, dann galoppierte es los. Ich sprang zur Seite, aus dem Augenwinkel sah ich noch, wie es über die beiden Typen trampelte. Obwohl es Arschlöcher gewesen waren, sog ich scharf die Luft ein. Nur um im nächsten Moment zu erkennen, dass sie unversehrt waren. Das Vieh hatte ihnen kein Haar gekrümmt.
Gewöhnliche Menschen mit unausgeglichenen Seelen können weder durch Schatten noch durch Lichter direkt verletzt werden oder sie sehen, erklärte Dreckstück wie in einem Videospiel-Tutorial.
Das Monster wirbelte den Kopf herum und funkelte mich an.
„Ach, aber weil ich so unfassbar ausgeglichen bin, kann es mich umbringen?", fauchte ich und griff mir an die Brust. Was verdammt noch mal bedeutete das, seine Seele zu rufen? Wo befand sich sowas denn?!
„Die ist total irre, lass uns schnell abhauen!", kreischte der kleinere der Typen und hievte seinen Kumpel auf die Füße, um ihn zum Ausgang zu schleppen.
„Die können mich auch sehen, dein Gelaber macht überhaupt keinen Sinn!", fuhr ich ungeniert fort, während das Monster erneut auf mich zustürmte und dabei nicht einmal ein einziges Glas zum Klirren brachte. Es kann nicht mit der realen Welt interagieren, schoss es durch meinen Kopf. Anscheinend konnten Schatten und vermutlich auch Lichter das nur mit Seelen.
Ich sprang zur Seite, wobei ich einen Barhocker umstieß.
Richtig. Lichter und Schatten können nur auf der seelischen Ebene interagieren. Wir nennen das Animus. Du bist noch nicht vollkommen in dieser Welt angekommen, deshalb können dich aktuell Wesen aus beiden Sphären wahrnehmen und mit dir interagieren.
Das Monster brüllte zornig und warf den Kopf herum. Plötzlich machte es einen Satz nach vorne. Mein Herz rutschte in die Hose, ich stolperte, als eines seiner Hörner gefährlich nah an meinem Gesicht vorbei zischte.
Und ich nehme an, ich muss meine Kräfte wecken, um vollends in der anderen Ebene anzukommen?
Absolut korrekt, bestätigte Dreckstück.
Meinem neuen Gegner schien mein ständiges Ausweichen langsam auf die Nerven zu gehen. Es stellte sich auf die Hinterbeine, fuhr mit dem Kopf durch den Kronleuchter - der nicht einmal schaukelte - und wollte mich mit einem einzigen Tritt seiner Vorderbeine zerstampfen. Von unten konnte ich seine vergilbten Elefantenzehen sehen.
Auf keinen Fall konnte ich unter denen sterben. Ich warf einen Blick zur Seite und sprang auf die Bar, als das Monster seine gigantischen Füße niederfahren ließ. Mit einem Donnern krachten sie auf den Boden. Obwohl sein Gesicht eine starre Maske war, bildete ich mir ein, kurz Verwunderung darin zu erkennen, als es mich suchte.
„Ich bin hier oben", rief ich, bevor ich mich von der Theke abstieß und auf seinen Rücken schwang. Wie erwartet brüllte es auf und begann zu buckeln wie ein Pferd beim Rodeo. Die Dire Straits betonten, dass sie ihr MTV wollten, das Monster bockte im Takt dazu.
Was machst du da, verdammte Scheiße???, kreischte Dreckstück.
Ich werde meine Seele nicht rufen, erklärte ich, wie selbstverständlich. Wenn ich das tue, kann ich nicht mehr arbeiten, nicht mehr zur Uni gehen, meine Familie nicht mehr sehen ... holte ich aus, während ich meine Hände in eine dicke Nackenfalte des Monsters grub. Reitstunden, 1. bis 12. Klasse. Meine Meinung zu Pferden? Schwierig. Meine Meinung zu Pferdemädchen? Schwieriger.
Es geht ums Überleben und DESHALB zögerst du???
Was bitte hab ich denn dann noch? Ich hab dreimal versucht mich umzubringen, weil mir diese Licht-Arschlöcher das genommen haben und jetzt soll ich mich da noch tiefer reinreiten?
Dreckstück brüllte in meinem Kopf mit dem Biest unter mir um die Wette. Ich flog auf seinem Rücken wie ein Pingpong-Ball durch die Luft und konnte mich nur mit zusammengekniffenen Beinen und einem Klammergriff oben halten. Zweimal, du hast zweimal versucht, dich umzubringen! Das erste war ein Unfall! Und jetzt wird das dritte Mal sein und es wird dir gelingen!
Ich kam nicht mehr dazu, zu antworten. Das Monster hatte genug von mir und schmiss sich zur Seite.
Oh Scheiße, die Szene kannte ich aus „Spirit, der wilde Mustang!"
Wir krachten auf den Fliesenboden, Stühle flogen durch den Schankraum, Scherben bohrten sich in meine Haut, ich verlor die Orientierung. Ein Brennen an meinem Arm raubte mir den Atem. Nicht einmal mehr fluchen konnte ich noch.
Das Monster sprang auf die Beine und ich glitt an ihm hinunter. Nur ich war verletzt, der Schatten war genauso vital wie zuvor. Mit einem Ächzen setzte ich mich auf. Schmerz zuckte durch meinen gesamten Körper. Ich war eindeutig nicht nur mit ein paar Schnitten davon gekommen. Irgendwas musste gebrochen oder zumindest geprellt sein. Aber noch war ich nicht bereit aufzugeben.
Du musst an dem Ort suchen, wo du deine Seele spürst. Wo spürst du dein Innerstes in deinem Körper, Bo? Wo sitzt dein Bewusstsein, dein Ich?, gab Dreckstück die Hoffnung nicht auf.
Ich kam wackelig auf die Beine. Das Monster hatte mein letztes Aufbäumen beobachtet, ohne mich anzugreifen. Ich grinste schmal. „Ihr unterschätzt mich also beide?"
Dreckstücks Enttäuschung durchflutete mich. Ich geb's auf. Geh ich halt drauf. Du bist eine absolute Vollidiotin, brummte er.
„Ich kann dich auch so verletzen!", kündigte ich dem Monster - retrospektivisch betrachtet etwas großspurig - an.
Zur Antwort brüllte es erneut. Dieses Mal scharrte es nicht, sondern galoppierte direkt auf mich zu. Ich bewegte mich nicht vom Fleck. Wenn ich sowieso draufgehen würde, dann konnte ich auch alles auf eine Karte setzen. Meinen Blick hatte ich auf seine Augenhöhlen gerichtet. Ich hatte keine Ahnung, wie dieses Ding seine Umgebung wahrnahm. Aber meine Hoffnung war, dass dahinter ein empfindlicher Punkt saß.
Nur zwei Sprünge, dann einer. Und dann drohte es, mich zu zerquetschen. Sein bulliger Kopf fuhr nieder auf mich, die Hörner zeigten auf meine Brust.
Ich spürte, wie die Luft bebte. Und dann griff ich zu. Etwas Weiches, Glitschiges flutschte durch meine Finger.
Ich schauderte. Das Monster schrie auf, warf den Kopf zurück und die Welt drehte sich um mich herum. Ich sah die Decke, den Kronleuchter, die zerstörte Bar. Oben und unten, es war einerlei. Schmerz durchzuckte den Arm, der in der Augenhöhle steckte. Aber ich ließ nicht los. Ich drehte den Kopf, während ich durch die Luft flog und bemerkte verrußte Gedärme, die ich hinter mir herzog. Eine dunkle Flüssigkeit spritzte an die Decke. Und mit meinen Fingern umklammerte ich einen faustgroßen, pechschwarzen Augapfel.
Das Brüllen des Monsters, als ich ihm das Organ aus dem Kopf riss, würde ich nie vergessen. Meine Ohren klingelten. Für einen Moment befürchtete ich, sein Schrei reichte bis in die reale Welt und ließ den Kronenleuchter erzittern. Aber vielleicht war es auch nur Einbildung. Der Bann wurde gebrochen, als ich mit einem Krachen auf der Theke landete. Dieses Mal wurde mir kurz schwarz vor Augen. Mein Rücken explodierte, da war ich sicher. Meine Sicht war verschwommen, Sterne tanzten vor meinen Augen. Das Klingeln in meinen Ohren übertönte alle anderen Geräusche.
Ich spürte, wie erneut die Luft vibrierte. Oder war es eine Art Aura? Bo? Bo, komm zu dir! Los steh auf Bo!, jammerte Dreckstück. Ich blinzelte und hob den Arm. Das schwarze Auge befand sich immer noch in meiner Faust. Die weiße Pupille zuckte, dann fixierte sie mich.
Hinter ihr tauchte ihr Besitzer auf.
Oh Shit, jetzt bin ich wirklich erledigt, wurde mir klar.
Seine Maske war doch nicht starr. Nein, jetzt war sie schmerzverzerrt. Der lippenlose Schlund hatte die Zähne freigelegt, die an ein riesiges menschliches Gebiss erinnerten. Ein langer Riss zog sich von der Augenhöhle über den Bereich, wo sich bei einem Menschen die Nase befand. Schwarzes Blut tropfte aus dem Loch hinab auf mein Gesicht. Es war kalt. Ich hatte es tatsächlich verletzt.
Ein Grinsen stahl sich auf mein Gesicht. Dreckstück hatte Recht. Es waren tatsächlich nur zwei Selbstmordversuche gewesen, beim ersten Mal war ich bei meiner panischen Flucht vor meinen Entführern vor ein Auto gerannt. Als ich unversehrt in einer Leichenhalle wieder aufgewacht war, war mir der Gedanke gekommen, dass ich vielleicht nicht sterben konnte. Zumindest hatte ich es vermutet.
Das hier, das war erst mein dritter Versuch. Und ja, dieses Mal wäre ich erfolgreich. Außerdem würde ich sterben, während die Dire Straits im Hintergrund liefen. Das hätte euren Vätern bestimmt so gefallen.
Ich schloss die Augen. Verdammt. Fast hatte ich wieder Lust gehabt zu leben, um herauszufinden, was es mit all dem Lux- und Umbra-Kram auf sich hat.
Fast.

Und tschüss Bo. Aber meint ihr wirklich, das ist ihr Ende? Oder was könnte jetzt passieren, das ihr den Arsch rettet? :D Wie hat euch das heutige Kapitel gefallen? Versteht ihr, warum Bo ihre Kräfte nicht wecken will?

Lux - Krieg zwischen Licht und SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt