Erneut verschwamm meine Umgebung. Die Szene im Esszimmer meiner Familie rückte in die Ferne, wurde immer kleiner, verlief sich in der Dunkelheit.
„Wartet!", rief ich und wollte Mama, Yuzei, selbst ihrem dämlichen Freund hinterher rennen. „Geht nicht weg!" Immer kleiner wurden ihre Gestalten, das Licht der Küche schrumpfte auf einen winzigen leuchtenden Punkt in der Finsternis. Wie ein einzelner Stern an einem sonst tiefschwarzen Nachthimmel. Ein letztes Aufglimmen und er erlosch.
Stille. Ich war allein mit meinem Atem.
„Was bedeutet das?", fragte ich in die Leere hinein. Meine Stimme verhallte. Ich machte einen Schritt nach vorne, doch ich spürte keinen Boden unter den Füßen. Es war, als würde ich schweben.
Ich begann zu rennen. Doch ich wusste nicht, wohin. Es gab kein Oben oder Unten. Was hatte ich vor? Warum war ich hier? Wo wollte ich hin?
Warum rannte ich überhaupt?
Mein Atem verfiel in einen gleichmäßigen Rhythmus mit meinen Bewegungen. Ich hatte kein Ziel, hörte meine eigenen Schritte nicht. Aber in der Dunkelheit zu verharren kam mir wie die schlechtere Alternative vor. Also rannte ich immer weiter.
Minuten wurden zu Stunden. Vielleicht waren es auch Jahre oder Jahrhunderte. Hier schien sich die Zeit wie Gummi zu ziehen. Doch egal, wie weit mich meine Beine durch die Dunkelheit trugen, sie lichtete sich nicht. Mein Atem beschleunigte sich, stolperte und eine kalte Gewissheit schnürte meinen Hals zu.
Ich war gefangen.
„Hallo?", schrie ich völlig außer Atem, als ich stehen blieb.
Nichts.
„Wie komm ich hier raus?", murmelte ich jetzt an mich selbst gewandt. Schwer atmend hob ich meine Finger vors Gesicht, sodass ich die Handflächen sehen konnte. Moment. Warum konnte ich in dieser Finsternis überhaupt etwas erkennen? Es gab keine Lichtquelle. Suchend schaute ich mich um. Nichts.
Dann verstand ich.
Ich bin es. Ich strahle die Helligkeit aus.
Mein Blick wanderte zu meinen Füßen. Die Dunkelheit kringelte sich in zuckenden Bewegungen in einem Radius von etwa dreißig Zentimetern über den Boden um meinen Körper. Jetzt hörte ich es plötzlich: Das Flüstern der Schatten. Da war es wieder.
Bo...
Booooo.
BO!
Es waren unzählige Stimmen, die zu einem Rauschen anschwollen. Die Dunkelheit verdichtete sich um mich herum. Wieder wollte ich rennen. Wollte weg laufen vor der Finsternis, wollte ihr entkommen.
Doch ich konnte meine Beine nicht bewegen.
Panik ergriff mich. Nein. War das der Tribut, den ich für meine Fähigkeiten zahlen sollte? Würde die Nacht mich verschlingen?
Die Schatten türmten sich vor mir auf wie eine schwarze Gewitterfront, kichernd, schallend, qualmend, über- und untereinander hinweg tanzten ihre Schwaden und beugten sich über meine Gestalt.
Nein! Nein, ich durfte nicht ... ich durfte nicht Teil davon werden! Ich musste meine Familie beschützen! Wenn ich jetzt starb, wäre niemand mehr dort, der sich um sie kümmerte. Oder ... waren sie nicht ohne mich ohnehin besser dran?
Tränen stiegen mir in die Augen, als das Licht, das mein Körper ausstrahlte, flimmerte und ich sank auf die Knie.
Bo.
Ich hielt inne. Diese Stimme kannte ich.
Hör auf zu weinen Bo.
Mein Blick hob sich. Die Schatten türmten sich nach wie vor über mir auf. Doch ihre Bewegungen hatten sich verlangsamt. Fast, als warteten sie.
„Bist du das, Dreckstück?", flüsterte ich.
Hierbei kann ich dir nicht helfen. Aber vergiss nicht, du bist nicht allein. Auch jetzt bin ich an deiner Seite, als dein Schatten. Die Stimme verhallte in meinem Kopf.
„Warte, geh nicht!", rief ich und schnellte wieder in die Höhe.
Doch Dreckstück antwortete nicht. Die Schatten beschleunigten ihren Tanz wieder.
Ich schluckte. Er war immer an meiner Seite, als mein Schatten?
War er einer von denen direkt vor mir? Ich versuchte, Anfänge und Enden einzelner Schatten auszumachen, doch es war unmöglich. Es war eine einzige schwarze Masse. Sollte ich ihn dort etwa finden?!
Oder nein. Das war es nicht. Er war nicht nur einer davon. Konnte es sein, dass ich etwas grundlegend missinterpretiert hatte und diese Finsternis, die mich umgab, gar keine externe Gefahr war?
Zitternd atmete ich aus. Dann hob ich meinen Arm, die Hand ausgestreckt zu den Schatten. Ihre Bewegungen verlangsamten sich, je näher meine Finger ihnen kamen. Der Rauch beruhigte sich, die Schwaden gewannen an Konsistenz, bis ich eine matte schwarzgraue Oberfläche erkannte. Immer mehr Dunkelheit sammelte sich auf kleiner Fläche, floss hinzu und als meine Fingerspitze der Dunkelheit begegnete, erwiderte eine fremde, dunkle Hand die Berührung. Mein Leuchten verstärkte sich und drängte die Schatten zurück. Sie alle flossen in den kleinen Punkt, dort, wo meine Finger die Dunkelheit berührten, immer schneller und schneller lichtete sich der schwarze Qualm, erst war da nur noch ein diffuser dunkler Schleier, dann erkannte ich in der Ferne den azurblauen Himmel. Als ich nach unten sah, bemerkte ich, dass er unter meinen Füßen weiterging. Kleine weiße Wölkchen türmten sich vereinzelt auf. Bis auf den letzten Tropfen hatte sich die Dunkelheit in die Silhouette zurückgezogen, die nun vor mir stand und ihre Handfläche gegen meine legte. Es schien eine menschliche Gestalt zu sein, auf deren Kopf ich die scharfen Zacken einer Krone erkannte. Doch die gesamte Haut der Erscheinung bestand aus nächtlicher Finsternis. Mein Licht war nicht in der Lage, sie zu erhellen, sodass ich keine Gesichtszüge, keine Farben, nein, nichts weiter als den Umriss des Körpers ausmachen konnte.
„Hallo Bo", sprach mich die Gestalt aus Schatten an, deren Oberfläche bei jedem Wort pulsierende Wellen schlug. Es war seine Stimme.
„Hallo Dreckstück", erwiderte ich. Warum auch immer, meine Angst war verflogen. Dabei hatte ich noch nie eine so konzentrierte Dunkelheit wie jetzt gesehen.
„Du hast unsere Seelen voneinander getrennt. Was wirst du als nächstes tun?", fragte Dreckstück. In seiner Stimme schwang dieses Mal keinerlei Emotion mit.
Ich atmete ein und unsere Finger verschränkten sich ineinander. „Meine Kräfte wecken", sagte ich. „Denn ich muss meine Familie beschützen. Oder sterben."
Ich meinte zu vernehmen, wie er nickte. „Dann werde ich warten, bis du fertig bist."
Das Leuchten, was von mir ausging, hatte sich weiter verstärkt. Die Wolken warfen honiggelbes Licht zurück und ich verstand, dass das von mir ausging. War ich ... so etwas wie die Sonne in diesem Himmel? Oder hatte ich einfach nur den Ort meiner Seele gefunden?
Mein Blick wanderte zurück zu Dreckstück und mir kam ein Gedanke. „Wenn ich weiter an Leuchtkraft zunehme, wird das gefährlich für dich."
Wieder ein Nicken, dieses Mal konnte ich es deutlich erkennen. „Deine Seele wird jeden Winkel deines Bewusstseins erstrahlen lassen. Das Licht wird alle Schatten auslöschen. Ich muss deinen Körper verlassen."
Das war es also, was Imara gemeint hatte. Dass Dreckstück bei der Erweckung meiner Kräfte exorziert würde. Meine Finger verkrampften sich in seinen. Plötzlich meinte ich, einen Schleier über seinem Gesicht zu erkennen, wie den einer Braut, nur in schwarz. Je heller ich leuchtete, desto besser konnte ich ihn auch erkennen!
Auf seinem Kopf thronte eine spitzzackige Krone, der schwarze Schleier umfloss langes, nachtschwarzes Haar. Sein Körper besaß weder weibliche noch männliche Züge. Über seine graue Haut tanzten Schlieren aus Schatten, ich erkannte dunkle Lippen und ein Augenpaar mit schwarzen Iriden. In ihnen lag eine entrückte Leere. Und eine eigenartige Traurigkeit.
„Nein", entschied ich. „Ich lasse dich nicht gehen."
Die Augen schlossen sich. „Du weißt, dass ich eine Gefahr für dich bin. Ich bin dein Feind."
„Dann schwöre mir hier und jetzt, dass du mich und meine Familie mit allem beschützen wirst, was in deiner Macht liegt. Du wirst ihr Leben schützen wie dein eigenes. Schwöre es mir", keuchte ich.
Dreckstück schlug die Lider auf. Seine Augen waren nicht mehr schwarz. Sie hatten eine blaue Farbe angenommen.
„Ich schwöre es", hauchte er und mit einem Mal kam mir seine Stimme eher vor wie die einer Frau. „Eins noch. Wenn du nachher aufwachst, musst du den Lucera sagen, dass ich deinen Körper verlassen habe und geflohen bin. Wenn du behauptest, mich getötet zu haben, werden sie wissen, dass du lügst."
„Du kannst nicht getötet werden, nicht wahr?", flüsterte ich.
Zwischen unseren Händen breitete sich ein helles Licht aus, das zwischen unseren Fingern hindurchstrahlte. „Eines Tages wirst du stark genug sein, Bo. Dann werde ich durch deine Hand sterben. Aber dieser Tag ist noch weit entfernt." Ich schluckte, meine Brust war unfassbar eng. „Du kannst hier nicht bleiben. Also mach dich ganz klein und ich werde dich tief in mir drinnen verstecken", erwiderte ich heiser.
„Wie du willst", flüsterte er und seine Gestalt verschwamm erneut, zog sich zusammen. Seine Finger zerfielen zu feinstem schwarzen Staub zwischen meinen. Ich ließ meine Hand sinken, während Dreckstück sich zu einer winzigen Kugel dunkelster Nacht zusammenzog. Meine Finger umschlossen die kleine schwarze Murmel. Als ich sie vor mein Gesicht hob, meinte ich, darin einen Sternenhimmel zu sehen. „Hier bist du sicher, du Dreckstück", murmelte ich und ließ die Murmel zwischen meine Lippen gleiten, um sie dann herunterzuschlucken.
Im nächsten Moment intensivierte sich mein Leuchten so sehr, dass ich selbst nichts mehr sehen konnte. Alles war so verdammt hell. Ich kniff die Augen zusammen und hob die Arme schützend vor das Gesicht - nicht sehr hilfreich, da auch sie leuchteten. Es wurde so hell, dass sich das Licht geradezu in meine Augen und auch in meine Haut brannte. Vor allem zwischen meinen Schulterblättern steigerte sich das Gefühl bald zu einem gleißenden Schmerz. Es war, als brannte meine Wirbelsäule.
Mir blieb die Luft zum Atmen weg. Als das Leuchten seinen Zenit erreichte, dachte ich, es zerriss mich.
Doch dann nahm es plötzlich wieder ab. Das Brennen erlosch. Ich konnte die Augen wieder öffnen. Der Himmel war zurück. Stille.
Und in meiner Hand tanzte ein kleines, hellgelbes Licht. Es war die Hand, mit der ich Dreckstück berührt hatte.
Im nächsten Moment fielen mir die Augen zu und ich glitt hinab in einen bodenlosen Schlaf.
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Lux - Krieg zwischen Licht und Schatten
Paranormal„In den vergangenen drei Wochen hab' ich dreimal versucht, mich umzubringen. Aber scheint, als wäre mein Leben jetzt Dark Souls: Ich komme jedes Mal zurück und es fehlt jedes Mal ein Teil von mir." Hätte Bo an diesem Abend im August nicht einen Frem...