Der früheste Termin, an dem mein Bruder nach Hause durfte, war am Wochenende. Also verbrachten Imara und ich die verbleibenden Tage zum Trainieren auf dem Parkplatz, während Haru und Leon täglich nach meiner Familie sahen und auf die Jagd nach einem ganz bestimmten Schatten gingen. Den sie nicht finden würden, weil er nach wie vor in meinem Körper steckte. Leider hatte ich Imaras Reaktion auf Harus Geständnis, dass er nicht wusste, wo sich der Schatten aus seinem Schwert aufhielt, nicht mitbekommen. Ich überlegte, ihn und Leon für einen Tag zu begleiten, entschied dann aber, dass ich lieber warten wollte, bis Yuzei zuhause war. Zudem würde ich sie extrem ausbremsen, weil ich nicht mit ihnen reisen konnte.
„Bevor wir dich nach Caelus bringen, gibt es einige Grundfähigkeiten, die du erlernen solltest", erklärte Imara, nachdem sie mich mit einem Wurf mehrere Meter von sich geschleudert hatte.
Ächzend stemmte ich mich wieder auf die Füße. „Und die wären?"
Seit drei Tagen musste ich schon versuchen, sie ein weiteres Mal mit meinem Lichtschlag zu treffen. So hatte sie meine Fähigkeit genannt. Aber es gelang mir einfach nicht, diesen Erfolg zu wiederholen. Wurde ich schlechter oder hatte sie sich einfach nur zurückgehalten bei unserem ersten Kampf?
„Erstens: Die roten Pillen, die du von mir bekommen hast. Du solltest sie strategisch einnehmen." Mein Blick fiel auf das Glasröhrchen, das ich mir an einer Kette um den Hals gehängt hatte.
„Manchmal ist es sinnvoll, sie nicht zu nehmen, wenn dein Körper dir im Weg ist. Wenn du gegen Schatten kämpfst, dann solltest du es ohne die Transmitter tun. So kannst du in der realen Welt keinen Schaden anrichten und das Monster töten, ohne Menschen in Gefahr zu bringen. Praktisch, oder?" Imara lächelte gut gelaunt und trat mir im Anschluss in die Seite, sodass ich aufkeuchte. „Natürlich ist das nicht immer möglich, manchmal hat man sie eben schon vorher genommen, weil man mit einem Menschen interagieren musste."
„Fuck Mann!", fluchte ich und konzentrierte mich darauf, geregelt zu atmen, bis der Schmerz nachließ.
„Zweitens", setzte sie nach: „Du musst zwei neue Lichttechniken erlernen. Zum einen den Sonnenschritt. Erinnerst du dich, als du vor uns abgehauen bist und du durch die Schatten gereist bist?"
Im letzten Moment wich ich einem weiteren Tritt aus und brachte mich hinter einem verwilderten Busch in Deckung. „Ja. Aber ich bin nur bei dem Schatten, der in mir drin war, mitgereist", gab ich zu bedenken.
„Natürlich." Imara beschleunigte ihre Schritte, als sie den Abstand, den ich eben zwischen uns gebracht hatte, überwand. Noch immer hatte sie kein einziges Mal ihre Waffe gegen mich eingesetzt. „Aber jetzt bist du eine Lucera. Das bedeutet, du kannst das Gegenstück dazu selbst erlernen. Der Sonnenschritt ist sowohl im Kampf als auch im Alltag nützlich. Ich zeige es dir."
Gerade noch hatte sie mir gegenüber, auf der anderen Seite des Busches gestanden. Dann löste sie sich plötzlich in Luft auf. Nicht schon wieder!, durchzuckte es noch meinen Kopf, bevor ihre Faust vor meinem Gesicht auftauchte.
Es ist immer die gleiche Taktik. Meine Hand schnellte wie von selbst vor, während ich mich duckte und sie beiseite schob. Ich wollte ihr meinen Kopf in den Bauch rammen, doch da verschwand Imara erneut. Weil mein Widerstand sich verdünnisiert hatte, landete ich im Dreck - direkt vor Imaras Füßen.
„Das ist unfair", maulte ich und sie ging vor mir in die Hocke.
„Nein. Willst du dich etwa beschweren, dass ich stärker bin? Das wird dich nicht weiterbringen." Sie streckte mir ihre Hand entgegen und ich ergriff sie nach einem kurzen Zögern. Sie zog mich auf die Beine.
„Sieh dich um und sag mir, was das Licht alles berührt", wechselte sie plötzlich das Thema. Ich verzog den Mund. „Bist du jetzt zu Mufasa geworden?"
Imara warf mir den warnenden Blick mit den erhobenen Augenbrauen zu und ich presste die Lippen aufeinander. Dann ließ ich meinen Blick über den Parkplatz wandern. Die Sonne schien nicht sonderlich hell, es war wie so oft ein fahler, stickiger Tag mit tiefhängenden Wolken am Himmel. Nur ab und zu krochen ein paar Sonnenstrahlen hervor und benetzten den Asphalt, die kargen Sträucher und den Metallzaun.
„Es gibt ein paar Stellen, wo es hell ist, aber nur, wenn die Sonne rauskommt", stellte ich fest und Imara nickte.
„Richtig. Das heißt, du kannst den Sonnenschritt nicht immer benutzen. Es ist sehr wichtig, den richtigen Moment abzupassen. Sollte das Licht verschwinden und du keinen Ausgang finden, bleibst du im Nimbus gefangen."
„Ich ... was?!" Entgeistert starrte ich sie an.
Imara erzählte im Tonfall der Leserin einer Gutenachtgeschichte: „Der Nimbus ist der Ort zwischen dem Animus und der Menschenwelt. Das Verbindungsstück sozusagen." Ohne das auszuführen, verfolgte sie unbeirrt ihren Lehrplan: „Damit du den Sonnenschritt nutzen kannst, musst du allerdings erst eine andere Technik erlernen. Die grundlegendste von allen. Auf ihr baut alles Weitere auf. An sich kennst du sie bereits, aber du bist dich ihrer Möglichkeiten noch nicht bewusst. Die Seelenöffnung. Sie ist auch notwendig, um die Lichtkräfte zu entfesseln. Du beherrschst diese Technik also in rudimentärer Form bereits."
Ich zog die Schultern hoch. „Na dann, was brauch ich es dann noch lernen? Kommen wir lieber auf diesen Nimbus zurück", versuchte ich, meine Neugier zu stillen, doch Imara unterbrach mich mit einer herrischen Handbewegung. „Intuitiv die Seele zu öffnen, ist nicht ausreichend. Du musst es steuern können. Dazu musst du zurück an den Ort, den du bei der Entfesselung gesehen hast. Dort breitest du dich bis zu den Grenzen deines Bewusstseins aus. Und durchstößt die Mauer, die deine Seele umgibt, um zu schauen, was dahinter liegt. Es ist eigentlich recht simpel."
„Und was bringt mir das konkret?"
„Du wirst gezielt in der Lage sein, die spirituellen Kräfte deiner Gegner wahrzunehmen. Stärkere Lux oder Umbra merken natürlich, wenn du ihre Seele betatscht und können sich dagegen wehren. Menschen dagegen ... na ja die meisten sind recht unsensibel, was das angeht. Aber du kannst dadurch auch das Licht und die Schatten in deiner Umgebung klarer wahrnehmen und nutzen. Dir werden sich die Wege in den Nimbus offenbaren." Ihre Hand schnellte vor und traf mich frontal an der Stirn. Mir wurde kurz schwarz vor Augen und ich schnaufte, strauchelte und landete schließlich auf dem Hintern.
„Lass niemals die Deckung runter. Auch nicht außerhalb eines Kampfs. In Caelus wirst du wenig Freunde haben. Viele werden dich als Konkurrenz sehen aufgrund deiner besonderen Seele. Und einige werden dich als meine Schülerin nicht anerkennen. Du musst wissen, um zum Lucera ausgebildet zu werden, muss man normalerweise ein strenges Aufnahmeprogramm absolvieren. Und die wenigsten Lux werden so wie du, mit ihrer vollständigen alten Seele in unsere Welt wiedergeboren. Die meisten kommen als Lichtpartikel, als Hinterlassenschaften ihre Seele und müssen erst wieder stärker werden, um eine eigene Persönlichkeit zu entwickeln. Denk daran, wenn du den anderen Lux gegenüberstehst."
Na super. „Wenig Freunde bin ich gewohnt", brummte ich nur, während ich mir die Stirn rieb.
„Wir trainieren weiter, wenn du den Sonnenschritt und die Seelenöffnung beherrschst. Ich würde dir Meditation empfehlen", beendete Imara unseren Unterricht. „Ich gehe jetzt. Ich hab noch drei neue Folgen von And that's why we drink vor mir."
„Hä?", fragte ich entgeistert und beobachtete, wie sie sich ihre gestohlenen Kopfhörer in die Ohren steckte, während sie mich stehenließ.
Seufzend ging ich in die Hocke und inspizierte ein paar Unkrautpflänzchen, die sich durch den aufgebrochenen Asphalt gekämpft hatten. Als ich sie berühren wollte, glitt meine Hand durch sie hindurch. Selbst, wenn ich die Pillen nicht nahm, konnte ich mit allem aus unserer Welt, was sich bei meiner Entmaterialisierung - also sobald die letzte Pille nicht mehr wirkte - auf meiner Haut befand, weiter nutzen. Selbst, wenn es aus der Menschenwelt stammte. Aber sobald ich etwa das T-Shirt auszog, konnte ich es danach nicht mehr berühren. Noch immer hatte ich nicht einmal ansatzweise verstanden, was das alles wirklich bedeutete. Wie sah es in diesem Caelus überhaupt aus? Tat ich das Richtige?
Zerbrich dir lieber den Kopf darüber, wie du Imaras Anweisungen umsetzt, erklang eine vertraute Stimme in meinem Kopf.
Du hast immer noch Redeverbot, erinnerte ich Dreckstück. Ich hatte ihm... ihr (?) noch nicht verziehen.
Jetzt sei doch nicht so, maulte er. Ich dachte wirklich, dass sie dir nicht so einfach helfen. Es sind Lux, mir gegenüber haben die sich immer wie die größten Arschlöcher verhalten.
Weil du ein Schatten bist, du Idiot! Ich verdrehte die Augen und ließ mich auf meinen Hintern sinken.
So oder so ist es sicherer, wenn du auch die Macht über einige Schatten hast, verteidigte sich Dreckstück. Wo ich ihm recht geben musste.
Trotzdem bin ich sauer. Wenn meiner Familie etwas zustößt, dann ...
Dreckstück unterbrach mich: Ich habe etwas geschworen, als du mich verschont hast. Deiner Familie wird nichts geschehen, solange ich es verhindern kann.
Ob er nun die Wahrheit sagte oder nicht, es hatte keinen Zweck zu streiten. Ich schloss die Augen. Bereits nach kurzer Zeit hatte ich entdeckt, dass man in seiner Seelenform, also ohne die Einnahme der Pillen, durch Wände und Gegenstände gehen konnte. Ja selbst durch andere Menschen konnte man sich hindurch bewegen. Einige bemerkten es, aber die meisten nahmen es gar nicht wahr. Tiere schienen einen besser wahrnehmen zu können. Es war wirklich wie in einer Geistergeschichte. Wenn man nicht aufpasste, fiel man sogar durch den Erdboden. Anfangs hatte ich mich konzentrieren müssen, dass mir genau das nicht passierte, doch mittlerweile war es ein bisschen, wie auf Salzwasser zu treiben. Jetzt musste ich mich eher darauf konzentrieren, wenn ich im Erdboden verschwinden wollte. Ähnlich verhielt es sich auch mit dem Passieren ganzer Wände und anderer lebloser Gegenstände. In den Momenten, wo man aber etwas in die Hand nehmen und benutzen wollte, scheiterte man in seiner Seelenform - es schien unmöglich zu sein. Es war, als wollte man Wasser zwischen den Händen einfangen, doch es floss zwischen den Fingern hindurch. Irgendwie ... konnte man es schon berühren, aber nie richtig greifen. Die Hände glitten hindurch, obwohl man spürte, dass es dort war. Wahrscheinlich waren diese Erkenntnisse auch essentiell, um zu verstehen, wie der Sonnenschritt und die Seelenöffnung funktionierten.
Vor meinem inneren Auge stellte ich mir den endlosen Himmel vor, der meine Seele darstellte. Die kleinen Wölkchen trieben vor einem azurblauen Firmament und meine Füße schlugen seichte kreisförmige Wellen auf einer bodenlosen Spiegelfläche unter mir.
Doch wo sollte sich das Ende befinden? Ich drehte mich um die eigene Achse. Dieser Ort schien weder einen Anfang noch ein Ende zu besitzen. Der Himmel schien in die Unendlichkeit zu greifen. Schulterzuckend setzte ich mich in Bewegung. Schon während ich die ersten Schritte machte, wusste ich instinktiv, dass mich das nicht an mein Ziel führen würde. Ich hatte das Gefühl, dass Dreckstück etwas sagen wollte, sich aber zurückhielt. An seinem Redeverbot lag das wohl kaum. Wollte er, dass ich selbst darauf kam, was ich tun musste?
„Ey", sprach ich ihn an. „Das letzte Mal, als ich dich hier gesehen habe, dachte ich kurz, dass du eine Frau bist."
Ich ließ die Feststellung im Raum stehen, während ich durch meine Seele spazierte.
Erst antwortete mein Begleiter nicht, doch dann hallte seine Stimme durch den Himmel: „Meine Herrin hat sich aus tausenden Schatten zusammengesetzt. Aber der Kern ihrer ersten Seele war weiblich. Im Grunde haben weder Schatten noch Lichter Geschlechter. Wenn man wie du eine besondere Seele hat, die nicht zerfällt, behält man die Form meist bei, zumindest anfangs. Bei meiner Herrin war das genauso."
„Also hatte sie ... mehr Schatten als Licht in ihrer Seele, als sie ein Mensch war?", schlussfolgerte ich.
„Ich habe nie eine dunklere Seele als ihre gesehen ..."
Er sagte das mit einer solchen Ehrfurcht, aber das war doch etwas Schlechtes? „Was hat sie getan?", flüsterte ich, auch wenn die Antwort mir bereits im Voraus Sorgen bereitete.
„Nicht jeder mit einer dunklen Seele tut schreckliche Dinge, Bo", tadelte er mich.
„Du weichst meiner Frage aus", stellte ich fest.
Ich meinte, ein Seufzen zu hören. „Du würdest es nicht verstehen. Noch nicht." Für einen Moment schwiegen wir und ich verdrehte die Augen. „Ich wusste gar nicht, dass Schatten so melodramatisch sind wie edgy Teenager."
„Pfft", machte Dreckstück und ich grinste, bevor mir eine neue Frage durch den Kopf schoss. „Sollte ich dich dann mit sie statt er ansprechen?"
„Mir vollkommen egal", kam es wie aus der Pistole geschossen zurück. „Konzentrier dich lieber darauf, die Grenzen deiner Seele zu finden!"
Stöhnend beschleunigte ich meine Schritte, obwohl ich wusste, dass es zu nichts führen würde. Es gab kein Ende. Eine Seele besaß keine Wand oder eine Eingangstür. Ich kam immer nur durch mich selbst ... Ich hielt inne. War das wieder so ein Ding wie beim letzten Mal, wo ich selbst der Schlüssel war?
Ich hob meine Hände vor mein Gesicht. Aber wie ...
Mein Blick fiel auf die kleinen Wellen, die bei jeder Bewegung von meinen Füßen ausgingen. Instinktiv ging ich in die Hocke und ließ meine Hand auf die silbrige Oberfläche gleiten. Es war kühl und glatt, aber fester als erwartet. Ich konnte nicht hindurch.
Die Erinnerung an das Gefühl daran, wenn man durch die menschliche Welt fiel, nahm in meinem Kopf Gestalt an.
Es ist wie auf der Wasseroberfläche zu treiben. Ich muss mich einfach darauf konzentrieren, unterzugehen. Werd schwer. Schwerer. Sink hinab, befahl ich mir. Die Oberfläche zitterte und schlug neue Wellen. Kleine Vibrationen kräuselten sich unter meinen Fingern, als die langsam in das flüssige Silber tauchten. Automatisch holte ich tief Luft, bevor ich mein Gesicht, meine Arme, meinen ganzen Körper darin versenkte.
Wurde auch Zeit, kommentierte Dreckstück, als ich verschwand.
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Lux - Krieg zwischen Licht und Schatten
Paranormal„In den vergangenen drei Wochen hab' ich dreimal versucht, mich umzubringen. Aber scheint, als wäre mein Leben jetzt Dark Souls: Ich komme jedes Mal zurück und es fehlt jedes Mal ein Teil von mir." Hätte Bo an diesem Abend im August nicht einen Frem...