Rot

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Die nächsten Tage und Wochen liefen an Nala vorbei. Sie stand auf, wenn sie geweckt wurden, wusch sich, trainierte, aß und schlief. Doch innerlich war sie leer. Sie spürte kaum, wen sie im Training mit Marlon von dem Takir getroffen wurde. In den wenigen freien Momenten las sie in den Büchern, brachte sie zurück und holte sich neue. Sie wusste selbst nicht einmal, was sie an Themen mitnahm. Alles war hinter einem grauen, trostlosen Schleier und nur Marlons tröstende Anwesenheit und sein brennender Wunsch, dass sie beiden flüchten würden, hielt sie auf den Beinen.

Der kleine, noch intakte Teil von ihr, wusste, dass sie ein Trauma erlitten hatte, aber sie war nicht in der Lage, dieses zu überwinden und von Jakob oder den anderen brauchte sie keine Hilfe erwarten. Das Wissen, dass sie nur ein Nutztier war, sank immer tiefer in sie ein und lähmte sie. 

"Oh."

Marlon hatte nach den ersten Tagen aufgegeben, Nala aus ihrem Kokon zu ziehen. Er kümmerte sich um sie, sprach mit ihr und hielt sie allein mit seiner Stimme am leben. Dieser verwunderte Ausdruck drang zu ihr durch und lies sie, seid langem erstmal wieder ihre Umgebung erkennen. Sie waren im Speisesaal und Marlon starrte auf die Farben an der Wand. Sie zeigten rot. 

"Oh."

"Heute ist Arena-Tag. Beeilt euch mit dem Frühstück. Bis zum Mittag werdet ihr die Arena reinigen und herrichten. Danach haltet ihr euch am Rand. Ihr werdet die Verletzen zum Heiler bringen und die Toten zum Durchgang - dort, wo ihr auch angekommen seid. Ich teile die Gruppen ein. Und nun los."

Jakob war wie immer herzlos und gefühlskalt. Er betrachtete Nala einen Moment länger, als es ihr angenehm war, dann teilte er beide ein, die Verletzten zu tragen. 

"Halte dich daran fest."

Irritiert sah zu Marlon, der ihr gegenüber am Frühstückstisch saß.

"Was meinst du?"

"Du bist wieder zurück. Halte dich daran fest, Nala. Falle nicht wieder in das Loch. Bitte."

Nala betrachtete ihren Teampartner nachdenklich und ihr fiel auf, wie grau er aussah. Er war in den letzten Wochen gealtert und Erinnerungsfetzen flackerten in ihr auf, wie sehr er um sie bemüht war. Sie schämte sich. Sie hatte ihm so viel aufgebürdet und er hatte es klaglos erduldet. Dabei steckte er genauso hier fest wie sie. Sie sollten sich gegenseitig Halt geben. Sie nickte ihm zu und Marlon wirkte erleichert.

Das Frühstück war kurz und danach herrschte reges Treiben in der Areana. Der Sand wurde gekehrt und neu verteilt. Dunkle Flecken wurden entfernt und mit reinem Sand ersetzt. Überall wurden Girlanden aus Korallen aufgehangen. Selbst Blumen, wie sie es aus der Oberfläche kannte, wurden verteilt. Ein schmerzhafter Stich fuhr in sie, als sie an ihre Freundin Sabine dachte. An Maria und Marc, ihre Zieheltern. Das alles schien so weit weg. Doch es mischte sich auch Aufregung hinein. Sie würde das erste Mal einen echten Kampf mitbekommen, bei dem sich Zuschauer auf den Tribünen befanden. So, wie sie es sich durch historische Filme immer vorgestellt hatte. Sie schwankte dabei zwischen Entsetzten und Neugierde.

Eine Bewegung oberhalb der Kuppel zog ihren Blick dorthin und für einen kurzen Moment glaubte sie, wieder den Rochen zu sehen. Dann wurden sie auch schon von Jakob aus der Arena gescheucht. Bald würde es beginnen.

DrowningWo Geschichten leben. Entdecke jetzt