Kapitel 6

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„Das ist Yuna", meint Liv beiläufig und zeigt auf das Mädchen, das gerade meinem Bruder den Ball wegnimmt, „und Kyle wird nie eine Chance bei ihr haben."

Etiennes Lachen ertönt sofort neben uns und er schnappt sich ebenfalls ein Bier: „Nicht in diesem Leben." Er reicht Mika ebenfalls ein Getränk und sieht dann mich an. Ich bin immer noch ziemlich schockiert von der Tatsache, dass ich mich schon vor einer Person hier vollkommen blamiert habe. Also nehme ich die Flasche, die Etienne mir reicht, einfach entgegen, obwohl ich gar kein Bier mag. Die anderen setzen sich zu Liv, doch bevor ich es ihnen gleichtun kann, kommen Kyle und Yuna zurück. Ich mustere sie kurz, bevor sie zu mir sehen kann und merke, dass sie noch selbstbewusster wirkt als auf der Party. Sie trägt eine kurze Sporthose, dunkle Chucks und ein Shirt, das relativ viel Ausschnitt zeigt. Wenn ich mir überlege, dass ich ihr auf der Party voll auf die Brüste geguckt habe, glühen meine Wangen direkt wieder. Ein Lachen ertönt vor mir und als ich aufsehe, erkenne ich zwei braune Augen, die mich amüsiert mustern. „Wenn das nicht Red Russian ist", sagt Yuna und fläzt sich auf die Bank direkt vor mir. Liv mustert uns beide und fragt: „Kennt ihr euch?" Ich werde mit Sicherheit noch einige Stufen röter und mein Herz beginnt zu rasen. Mir ist es unfassbar peinlich, dass gleich jeder diese Geschichte kennen wird. Kurz huscht mein Blick zu Yuna und sie erwidert ihn grinsend. Sie mustert mich für einen Moment, dann erklärt sie: „Ja auf der Party habe ich sie angerempelt, deshalb ist ihr Drink runtergefallen. Ihr kennt mich, ich kenne keine Rücksicht auf Verluste." Die anderen lachen und etwas Erleichterung durchfließt mich, weil mich niemand ansieht. Sofort wird ein anderes Thema angeschnitten und auch mein Bruder gesellt sich zu uns. Verwundert sehe ich Yuna an, weil ich mir sicher bin, dass sie sich auch anders an unser erstes Treffen erinnert. Wieso hat sie nicht die Wahrheit erzählt? Sie scheint, meinen Blick zu spüren, denn sie schaut kurz von den anderen zu mir. Mit ihren Augen zeigt sie auf den Platz neben sich und scheint, mir sagen zu wollen, dass ich mich setzen soll. Vermutlich ist das eine ziemlich gute Idee, weil ich die Einzige bin, die noch immer unschlüssig in der Gegend herumsteht. Also lasse ich mich auf der Bank nieder und versuche dem Gespräch über Erinnerungen der letzten Jahre mehr oder weniger zu folgen. Schon jetzt überfordern mich die Eindrücke absolut und ich weißt nicht, wie ich die nächsten Wochen überleben soll. Während die anderen quatschen, betrachte ich Yuna unbemerkt aus der Nähe. Sie strahlt eine unglaubliche Gelassenheit aus, während sie spricht und bei allem, was ich bisher gesehen habe. Ihre Haare sind heute zusammengebunden in einem Pferdeschwanz, sodass man sehen kann, dass sie Ohrringe und einen Helix trägt. Ich erinnere mich daran, dass mein Bruder immer davon erzählt hat, dass Yuna das Schärfste ist, was der Osten zu bieten hat. Jetzt kapiere ich zumindest, dass das eine Anspielung auf ihre Herkunft ist, was den Spruch aber nicht weniger dämlich macht.

„Wo seid ihr Idioten alle?", ertönt eine Stimme vorm Haus und sofort stehen die anderen auf. Ich will es ihnen gleichtun, bleibe dabei aber an der Tischdecke hängen und falle nur nicht hin, weil ein Arm mich festhält. „Du bist echt ungeschickt, Red Russian", meint Yuna grinsend und ist mir kurz so nah, dass ich ihr Parfum riechen kann. Schnell rappele ich mich auf, lächele unbeholfen und laufe den anderen hinterher. Wie oft kann man sich eigentlich in kurzer Zeit vor jemandem lächerlich machen? Drinnen erblicke ich als erstes Ashley, was meine Laune definitiv nicht hebt. Als dahinter jedoch Alex zum Vorschein kommt, muss ich automatisch lächeln. „Oh schöne Helena, womit habe ich Ihre Anwesenheit verdient?", singt er fröhlich und kommt zu mir gelaufen. Er macht eine theatralische Verbeugung und ich halte ihm meine Hand hin: „Sir Alex, welch angenehme Überraschung." Er ergreift sie sofort und drückt mir einen Kuss auf den Handrücken. Dann sieht er auf und ich erkenne das Funkeln in seinen Augen. Lachend zieht er mich in seine Arme und hebt mich kurz hoch. Ich schmiege mich lächelnd an ihn und bin wirklich erleichtert, jemanden an meiner Seite zu wissen. Als er mich wieder runterlässt, bemerke ich, dass alle uns beobachtet haben. Sofort werde ich wieder leicht rot, doch Etienne klatscht in die Hände: „Jetzt kann die Party beginnen." Sofort stimmen alle ein und wir zeigen Alex und Ashley, wo sie ihre Sachen abladen können. Alex wird bei Kyle schlafen und im Raum daneben übernachten Etienne und Mika. Liv, Ashley und Yuna schlafen im größten Zimmer und ich alleine im kleinsten. Nach dem Bezug der Zimmer macht Ashley den Eindruck auf mich, als hätte sie lieber das kleine Zimmer für sich, aber das kann sie sich gleich abschminken. Kyle und Ashley, Etienne, Mika und Yuna gehen direkt zum See, um das Wasser auszuprobieren, während Alex und ich uns erstmal unterhalten. Liv bereitet derweil schon mal etwas zu essen vor und richtet sich die Küche für die nächsten Wochen her. „Es war so klar, dass deine Eltern dahinter stecken", meint Alex lachend, er kennt mich lange genug, um zu durchschauen, dass ich eigentlich nicht hier sein will. „Aber los erzähl, wie läuft das Klimpern?", fragt er interessiert und ich erzähle ihm von meinem Fortschritt. Alex hat mich schon immer verstanden, weil er selbst Gitarre spielt und die Musik liebt. Er hört mir gespannt zu und erzählt mir dann von seinem Studium. Als ich ihn gerade fragen will, ob er denn jemanden kennengelernt hat, kommt Liv aus dem Haus. „Hier probiert mal", sagt sie und reicht uns irgendetwas Frittiertes. Ich probiere es und erkenne, dass es sich um Blumenkohl handelt. Ich lächele nickend und mache einen Daumen hoch, woraufhin Liv grinst. „Wirklich gut", sagt auch Alex und sieht Liv lächelnd an. Ihr Grinsen wird dadurch noch breiter und ich meine, etwas Röte auf ihren Wangen zu erkennen. Irgendetwas liegt für einen Moment in der Luft, doch es ist sofort weg, als man aus der Ferne die Stimmen der anderen hört. „Die haben sicherlich Hunger", sagt Liv lächelnd und wir helfen ihr, den Tisch zu denken.

POV Yuna

Das Abendessen war wir jedes Jahr beim ersten Abend einfach super. Jeder erzählt von seinem Jahr und wir schwelgen in Erinnerungen an den letzten Sommer. Unsere Konstellation weicht dies Jahr ziemlich von denen der letzten Jahre ab, aber vielleicht ist das nicht schlimm. Mika benimmt sich schon jetzt wie einer von uns und wird sicherlich alles mitmachen. Kyles kleine Schwester ist schwieriger einzuschätzen, vor allem, weil sie noch kaum einen Ton herausbekommen hat. Immerhin verstehe ich jetzt, warum sie mir bekannt vorkam. Die beiden sehen sich unglaublich ähnlich, im Grunde ist sie nahezu sein weibliches Abbild in etwas jünger und hübscher. Es wird interessant zu sehen, ob mehr in ihr steckt. Am deutlichsten fällt aber auf jeden Fall Ashley aus dem Raster. Ich kenne sie erst seit wenigen Stunden, bin mir aber schon jetzt sicher, dass ich sie nicht leiden kann. Sie redet nur Schwachsinn und hängt an Kyles Lippen, als sei er ein Gott. Es sollte mich vielleicht erleichtern, dass er möglicherweise bald jemanden an seiner Seite hat, aber bitte nicht sie. Bei ihr ist auch jetzt schon klar, dass sie sich keines ihrer Markenkleidungsstücke versauen wird. Ich weiß wirklich nicht, was Kyle geritten hat, sie einzuladen. Als es dämmert, sitze ich unten auf der Wiese und schaue auf den See, als sich jemand zu mir gesellt. Es ist Etienne und er grinst so, als hätte man ihm gerade versprochen, dass er lange aufbleiben darf. „Sobald die Sonne weg ist, geht es los", sagt er grinsend und ich muss kurz überlegen, was er meint. Als es mir einfällt, runzele ich die Stirn: „Er will es echt machen? Auch mit seiner kleinen Schwester?" Gemeint ist die Mutprobe, die jeder in seinem ersten Jahr im Ferienhaus bestehen musste. Sie besteht daraus von einer drei Meter hohen Klippe in den See zu springen und das, wenn es nahezu dunkel ist. Mein bester Freund legt schmunzelnd seinen Kopf schief: „Denkst du etwa auch, dass sie nichts auf dem Kasten hat?" Ich ziehe eine Augenbraue hoch und frage mich, ob er das rhetorisch meint. „Du weißt doch, ich bin eine Zeit lang geklettert", meint Etienne zu mir und ich nicke. Er war nie wirklich gut darin, aber einige Jahre hat er es tapfer durchstanden. „Sie auch und Junge, ich habe nie wieder jemanden so klettern sehen. Sie hat aber aufgehört, kurz nachdem ich angefangen habe. Deswegen erinnert sie sich sicherlich auch nicht mehr an mich." Ich muss lachen, weil er seine Hand an seine Brust legt, so als würde ihn diese Tatsache schwer verletzen. „Vielleicht warst du einfach so schlecht, dass dich niemand wahrgenommen hat", stichele ich und er schubst mich leicht. „Sagt die mit der Höhenangst", erwidert er und bekommt dafür sofort einen Schlag gegen die Schulter. Ich hasse es, wenn er die Angst erwähnt, weil niemand davon wissen soll. Dass er es weiß, liegt auch nur daran, dass er mir mal von einem Klettergerüst herunterhelfen musste, als wir ungefähr zehn waren. Mich überrascht es allerdings durchaus, dass Helena scheinbar eine gute Kletterin ist. Kyle ist zwar super sportlich, aber er hat von seiner Schwester immer nur erzählt, dass sie eine Stubenhockerin ist.

Umso gespannter bin ich auf die Mutprobe, die wohl in wenigen Minuten stattfinden wird.

My hardest riseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt