Kapitel 44

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POV Yuna

Am nächsten Morgen stehe ich erst nach Ashley und Liv auf und bin ziemlich überrascht, als ich die Treppe herunterkomme. Liv und Kyle sitzen am Tisch und frühstücken, die anderen scheinen draußen zu sein. Meine Aufmerksamkeit hat jedoch nur Helena, die am Klavier sitzt und den anderen sichtlich ihr Essen versüßt. Sie lauschen ihren Klängen und man kann genau sehen, was es mit ihnen anstellt. Helena hat wirklich eine außergewöhnliche Gabe, sicherlich könnte sie einen Haufen wütender Menschen mit ihrer Musik besänftigen. Ich lasse mich auf die Treppenstufe sinken und lege mein Kinn auf meinem Knie ab, um ihr ebenfalls zu lauschen. Sie trägt ein T-Shirt und eine dünne Sporthose, sodass ich sehen kann, wie sich ihre Beine hin und wieder anspannen. Ihre Haare sind ausnahmsweise offen und ich wünsche mir direkt, sie anzufassen. Gestern Abend sind alle gleichzeitig ins Bett gegangen, sodass ich keine Möglichkeit mehr hatte, mit Helena zu reden. Ich will mich gerne versichern, dass es ihr gut geht und sie gestern Abend nicht bereut. „Ach fuck", stöhnt sie, weil sie sich scheinbar verspielt hat, obwohl ich es nicht hätte raushören können. Sie fährt sich genervt durch die Haare, woraufhin Kyle nur meint: „Hat sich doch gut angehört." Helena verdreht nur die Augen und steht auf, um ihre Notenblätter zusammen zu suchen. „Gut ist nicht gut genug", murmelt sie und ignoriert Kyles Aufmunterungsversuche. Sie kommt in meine Richtung, schaut aber erst auf, als sie vor mir steht. Ich bin mittlerweile aufgestanden und lege meinen Kopf leicht schief, als sie mich ansieht. Sie wirkt überrascht, mich zu sehen, doch ihr Ausdruck erhellt sich wenigstens ein bisschen. Mein Blick fällt auf den Block in ihren Händen und mir kommt eine Idee. Schnell schnappe ich mir ihren Stift und kritzele etwas auf eins der Papiere. Dann zwinkere ich ihr zu und gehe an ihr vorbei, um mir ein Brötchen aus dem Korb zu schnappen.

Als ich raus auf die Terrasse komme, sitzen dort Etienne und Mika, doch sie bemerken mich gar nicht. Die beiden sind manchmal völlig blind für ihr Umfeld, weil sie so verknallt ineinander sind. Ausnahmsweise ist mir das jedoch ganz Recht, weil ich so leicht an ihnen vorbeihuschen kann. Ashley ist damit beschäftigt, die Wäsche aufzuhängen und über die vielen T-Shirts von Etienne zu fluchen. Auch sie bemerkt mich nicht, sodass ich einfach hinterm Haus verschwinden kann. Ich setze mich auf einen Stein neben dem Schuppen und reiße ein Stück von dem Brötchen ab. Heute Nachmittag gehen wir klettern und ich habe trotz meiner Angst echt Lust darauf. Wir klettern immer gegeneinander die Wand hinauf und stoppen die Zeit, um uns jedes Jahr zu verbessern. Keine Ahnung, warum bei uns immer alles ein Wettkampf sein muss, aber ich habe mich daran gewöhnt und bin mittlerweile wie die anderen süchtig danach. Etienne ist normalerweise von der Technik her unser bester Kletterer, Kyle ist dafür aber der schnellste. Bei Ashley bin ich mir sicher, dass sie kein bisschen klettern kann, Mika ist vermutlich ähnlich begabt wie Alex und ich. Wenn Helena mit klettern würde, würde sie Kyles Zeiten sicherlich eingreifen können. Bei der Schnitzeljagd war sie wirklich schnell einige Meter über dem Boden und es sah bei ihr kinderleicht aus.

Mein Handy klingelt und reißt mich damit aus meinen Gedanken. Schnell fische ich es aus meiner Hosentasche und sehe, dass es mein Vater ist. Als ich höre, dass er sofort anfängt, japanisch mit mir zur reden, weiß ich direkt, dass er schlecht gelaunt ist. Ich hasse es, wenn er nicht deutsch spricht, weil ich echt nicht mehr gut darin bin, japanisch zu verstehen. Je länger ich meine Großeltern nicht sehe, desto mehr verlerne ich die Sprache, weil ich sie sonst mit niemandem spreche. Mein Vater hat uns mehr oder weniger zweisprachig aufgezogen, doch irgendwann hat er es aufgegeben, weil er selbst mit kaum jemand anderem auf seiner Sprache reden kann. Er ist auch bereits in seiner Jugend ausgewandert und hat meine Mutter früh kennengelernt, wodurch er nie den Drang hatte, wieder zurückzuziehen. Ich verstehe grob, dass meine Großeltern uns schon etwas früher erwarten und ich mit meinem Bruder darüber sprechen soll. „Ist gut, ich kümmere mich darum", sage ich schnell, um ihn zu beruhigen. Er grummelt noch etwas vor sich hin, spricht aber zumindest wieder so, dass ich ihn verstehe. „Es wird alles gut, Paps", muntere ich ihn auf und bin etwas überrascht über mich selbst. Normalerweise reden mein Vater und ich meist auf ziemlich oberflächliche Weise und oft ignoriere ich es, wenn er gestresst oder wütend ist. Ich höre ihn seufzen und einen Moment lang sagt er nichts. Dann räuspert er sich und fragt: „Hast du eine schöne Zeit?" Ich muss leicht schmunzeln und kratze an dem Stein herum, auf dem ich sitze. Es ist schöner als ich dachte, mal wieder von meinem Vater umsorgt zu werden. Er wusste nie, wie er meine Mutter ersetzen soll, dabei muss er das auch gar nicht. Er macht seine Sache sehr gut und ich würde ihm nie auch nur einen Vorwurf machen. „Ja, ich hoffe bei euch läuft alles? Hat Jeff wieder sein Motorrad bei dir abgeladen?", frage ich und höre meinen Vater leicht lachen. Wir reden über unsere Stammkunden und er erzählt, dass mein Onkel nicht halb so gut arbeitet wie ich.

Als die Kiesel vor mir knirschen, schaue ich auf und sehe, dass Helena ums Haus gekommen ist. Schnell sage ich meinem Vater, dass ich los muss und versichere ihm, dass ich mit Chiko reden werde. Ich lege auf und grinse Helena an, die zu mir kommt und weniger genervt als vorhin wirkt. „Mit wem hast du telefoniert?", fragt sie und schnappt sich etwas von meinem Brötchen. „Mein Vater", erwidere ich und ziehe sie an ihrem Shirt ein Stück dichter zu mir, sodass ich meinen Kopf an ihren Bauch kuscheln kann. Ich spüre sie leicht schmunzeln und mit ihrer Hand über meinen Hinterkopf streicheln. „Alles okay?", fragt sie einfühlsam und ich nicke. Keine Ahnung, wann ich zu einem Menschen geworden bin, der gerne kuschelt und über Gefühle redet, aber es tut in Helenas Nähe einfach gut. „Bei dir auch?", frage ich und löse mich wieder ein Stück von ihr, um zu ihr aufsehen zu können. Sie legt ihren Kopf leicht schief und scheint darüber nachzudenken, was mir Sorgen bereitet. Sie streichelt meine Wange und lächelt zögerlich: „Also falls du auf gestern anspielen willst..." Schnell drückt sie mich ein kleines Stück zurück, sodass sie auf meinem Schoß Platz nehmen kann und gibt mir einen sanften Kuss. „... damit geht es mir sehr gut", vollendet sie ihren Satz und ich muss grinsen. Schnell schlinge ich meine Arme um ihre Hüfte und platziere meine Hände an ihrem Hintern. „Ich will ja nicht angeben, aber das war noch nicht meine volle Leistungskraft", scherze ich und hebe demonstrativ meine rechte Hand, in deren Innenfläche noch immer ein kleiner Grind zu sehen ist. Helena lacht und streicht durch meine Haare: „Ich bin wohl selbst schuld daran, dass ich nicht das volle Programm abbekomme." Ich nicke amüsiert und gebe ihr einen kurzen Kuss. Helena greift in meinen Nacken und küsst meinen Hals: „Sag mir Bescheid, wenn du wieder komplett einsatzfähig bist." Sofort entsteht eine Gänsehaut auf meinem Körper und ich komme direkt auf ganz falsche Gedanken. Sie erkennt grinsend meine Reaktion und ich bin mal wieder überrascht, wie mutig sie mittlerweile in meiner Nähe ist. Ich muss an ihren Ärger vorhin am Klavier denken und sehe ihr nachdenklich in die Augen: „Bereust du es, hier geblieben zu sein?" Helenas Augen weiten sich leicht überrascht, doch dann scheint sie zu ahnen, woran ich denke. Sie lächelt leicht und schüttelt den Kopf. Während sie meine Wange streichelt, flüstert sie: „Ich denke ausnahmsweise nicht nur an meine Zukunft." Ich grinse leicht und tippe mit meinem Zeigefinger gegen ihre Schläfe: „Was spukt denn noch durch dieses Köpfchen?" Sofort schüttelt Helena lächelnd den Kopf und murmelt: „Das kann ich nicht sagen." Vorsichtig streiche ich mit meiner linken Hand über die Haut an ihrem unteren Rücken und flüstere: „Dann zeig es mir." Sie grinst und legt ihre Hand in meinen Nacken, um mich zu sich zu ziehen. Ich erwidere den sanften Druck ihrer Lippen und ziehe sie noch dichter zu mir. Als ich ihre Hand in meinen Haaren spüre, grinse ich in den Kuss und beiße leicht in ihre Unterlippe. Ich liebe es, dass sie mich immer auf diese verspielte Weise berührt und ich bin mir sicher, dass ich mittlerweile süchtig nach ihren Händen bin. Niemand hat mich je auf diese Weise angefasst, doch ich hätte es zuvor auch nie bei jemandem zugelassen. „Hells, bist du hier hinten?", lässt eine Stimme Helena zusammen zucken und sie löst sich schnell von mir, doch es ist bereits zu spät. Ein Mädchen mit dunkelbraunen Haaren steht vor uns und ihre Augen sind vor Staunen geweitet. Sie hat einen Koffer bei sich und ist von vorm Haus gekommen, vermutlich ist sie gerade erst angekommen. „Überraschung", sagt sie und lächelt schief, wobei deutlich zu erkennen ist, dass ihr die Situation peinlich ist. Helena scheint aus ihrer Starre zu erwachen, denn sie springt schnell auf und läuft zu dem Mädchen. „Hey, wie schön, dass du hier bist", sagt sie und umarmt die Braunhaarige stürmisch. Es muss wohl eine von ihren Freundinnen sein, wobei sie nicht erwähnt hat, dass noch jemand kommen sollte. Als Helena sich wieder von ihr löst, schaut sie kurz unschlüssig auf den Boden. Dann kratzt sie sich am Hinterkopf und dreht sich, um auf mich zu zeigen. „Ähm, das ist Yuna, eine von Kyles Freundinnen", murmelt sie und ihr Gesicht ist ähnlich rot wie damals im Club. Ich muss etwas über sie schmunzeln und fange mich wesentlich schneller wieder. „Hey", sage ich lächelnd, stehe auf und halte dem Mädchen meine Hand hin. Ihre Wangen sind ebenfalls leicht rot, den Beiden scheint die Situation peinlicher zu sein als mir. Na da haben sich ja wenigstens zwei gefunden. Trotzdem erwidert sie meinen Handschlag und meint: „Ich bin Quinn." Sofort muss ich leicht lächeln, weil ich jetzt doch eine Vorstellung habe, wer da vor mir steht. Helena hat mir davon erzählt, dass Quinn Geige spielt und sie eigentlich den ganzen Sommer mit ihr verbracht hätte. „Schön, dich kennenzulernen", sage ich möglichst charmant und schaue dann von Quinn zu Helena, die immer noch ziemlich überfordert aussieht. Kurz sieht sie mir in die Augen und mein Herz wird sofort von ihrem ängstlichen Ausdruck ergriffen. Wie kann ein Mensch nur so unwahrscheinlich niedlich sein bei allem, was er tut. Um ihr weitere Peinlichkeiten zu ersparen, sage ich: „Wir sehen uns nachher, komm erstmal an."

Dann lächele ich Quinn nochmal zu und lasse die Beiden in Ruhe, weil sie vermutlich einiges zu besprechen haben.

My hardest riseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt