Kapitel 58

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POV Yuna

Die Sonne ist dabei unterzugehen, als die anderen beschließen, nochmal schwimmen zu gehen. Ich bleibe mit meinem Bruder, Kyle und Ashley oben am Haus und schnappe mir ein weiteres Bier. Ich drehe den Korken in meiner Hand und versuche zumindest halbherzig Ashleys Geschichte von ihrer Führerscheinprüfung zuzuhören. In Gedanken gehe ich ständig wieder den heutigen Morgen durch und immer wieder tut es mir weh, daran zu denken. Helena ist jetzt bestimmt schon wieder zuhause und sitzt an ihrem Klavier. Wie viel lieber wäre ich bei ihr und würde ihr nur zuhören und zusehen. Stattdessen sitze ich neben meinem Bruder, den ich noch immer kaum ansehen kann. Er hat scheinbar wieder eine neue Freundin, die ebenfalls Kunst studiert und aus Jamaika kommt. Wie immer wirkt es nicht so, als sei es ihm sonderlich ernst. Meine Tanten werden vermutlich vollkommen schockiert sein, wenn er ihnen ein Bild von ihr zeigt. Ich frage mich wirklich, ob ich meinen Bruder überhaupt kenne. Nie hätte ich ihm zugetraut, dass er ein Mädchen bedrängen könnte. Ich versuche möglichst wenig mit ihm zu reden, weil ich Angst habe, dass ich sonst ausflippe. Mehrmals habe ich heute schon auf Whatsapp den Chat mit Helena angestarrt und war kurz davor, ihr zu schreiben. Sie hat mir ihre Nummer gegeben, als wir einmal zusammen auf der Wanderung gelaufen sind. Damals hatte sie dazu gesagt, dass ich ihr so immer eine Gute Nacht wünschen kann, weil wir hier so oft ins Bett gegangen sind, ohne die Möglichkeit dazu zu haben. Wenn ich an ihr freches Grinsen denke, könnte ich wirklich heulen. Schnell versuche ich an etwas anderes zu denken und schnappe mir Livs Schachtel Kippen. Ich zünde mir eine an und stehe dann auf, um ein Stück zu gehen. Einen Moment mit meinen Gedanken allein zu sein, hilft mir vielleicht, wieder klar zu kommen.

Ich laufe hinters Haus, um zum Wald zu gelangen, komme jedoch nicht weit. „Ey wie wäre es mit etwas Gras? Ich habe nicht genug für alle", sagt mein Bruder und zeigt mir einen Joint. Er ist mir gefolgt, ohne dass ich es bemerkt habe. Ich schüttele genervt den Kopf und ziehe an der Zigarette. Sofort runzelt er die Stirn und meint: „Was ist denn los mit dir?" Das kann ich ihm wohl schlecht erklären, also zucke ich nur die Achseln: „Gar nichts." Chiko lacht nur und nickt: „Geeenau." Dann mustert er mich einen Moment lang und grinst: „Es liegt an der Kleinen, die heute Morgen gefahren ist, oder?" Sofort wächst Wut in mir und ich balle meine Hände zu Fäusten, um ruhig zu bleiben. Mein Bruder lacht jedoch einfach weiter und meint: „Du hast sie gevögelt, das sehe ich doch." Mein Kiefer spannt sich an und ich bin kurz davor auszurasten. In meinem Kopf stelle ich mir vor, wie er sich an Helena vergeht und spüre, dass ich ihn am liebsten schlagen würde. „Naja, heiß ist sie ja schon", sagt er und grinst dabei. Da reißt mein Geduldsfaden und ich presse: „Hör sofort auf, über sie zu reden." Stirnrunzelnd grinst er weiterhin und witzelt: „Wieso? Ist sie eine Heilige?" Wütend blitze ich ihn an: „Ist das dein Ernst? Du weißt nicht, wer sie ist?" Chiko runzelt verwirrt die Stirn, er scheint sich tatsächlich nicht an sie erinnern zu können. Da ist es mit meiner Selbstbeherrschung dahin und es schießt nur so aus mir heraus. „Du hast versucht, sie zu vergewaltigen, Chiko! Du hast sie blutend zurückgelassen und jetzt willst du mir ernsthaft erzählen, dass du nicht wüsstest, wer sie ist?!" Die Augen meines Bruders weiten sich erstaunt und es erdrückt mein Herz förmlich, als ich erkenne, dass er sich erinnert. Bis eben hatte ein Teil von mir gehofft, dass Helena sich täuschen könnte. Ein kleiner Teil hatte gehofft, dass mein Bruder nicht ein komplettes Arschloch ist. Bevor er etwas erwidern kann, ertönt eine Stimme hinter ihm. „Er hat was?", fragt Kyle und ich höre seiner Stimme an, dass er auf hundertachtzig ist. Das nächste, was ich sehe ist, wie Kyles Faust Chiko volle Wucht an der Schläfe trifft und beide Jungen zu Boden gehen. Wieder und wieder saust Kyles Faust in das Gesicht meines Bruders und ich bekomme echte Angst. Ashley kommt zu uns gelaufen und versucht, Kyle aufzuhalten, doch er ist viel zu aggressiv. Erst als Alex und Etienne die Situation erkennen, schaffen sie es mit vereinten Kräften, meinen Bruder ein Stück wegzuschaffen. Die beiden brauchen all ihre Kräfte, um Kyle zurückzuhalten, der wütend meinen Bruder anbrüllt. „Du verdammter Wichser, ich bringe dich um!" Er versucht sich aus den Griffen seiner Freunde zu befreien, doch sie schaffen es, ihn fest zu machen. Mein Bruder blutet stark aus seiner Nase und Schläfe und steht nur unsicher auf seinen Beinen. Er wirkt benommen und ich sehe sofort, dass er ins Krankenhaus muss. Als Liv zu uns kommt, fragt sie, was los ist, doch ich bin nicht fähig zu reden. Was habe ich da gerade getan? In Kyles Augen glänzt noch immer pure Wut und ich bin mir sicher, dass er meinen Bruder tatsächlich umgebracht hätte, wenn ihn niemand aufgehalten hätte. Ich weiß, dass Chiko die Schläge verdient hat, doch trotzdem muss ich mich wohl um ihn kümmern. Ashley versucht Liv zu erklären, was sie gesehen hat, doch niemand kapiert wirklich, was los ist. Ich sehe in Kyles Augen, dass er schrecklich enttäuscht von mir ist und es tut mir weh. Ich habe ihn hintergangen, doch ich wusste es nicht besser.

My hardest riseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt