Kapitel 27

1.5K 89 0
                                    

Vorsichtig streiche ich über den weißen Verband in meiner Handfläche und kann nicht fassen, dass ich mir für dieses Mädchen einen Nagel eingefangen habe. Was ist eigentlich falsch mit mir? Vorhin habe ich Liv noch beteuert, dass sie mich kein bisschen interessiert und jetzt das. Wenn ich ehrlich mit mir selbst bin, wollte ich Liv nur loswerden und habe nicht die Wahrheit gesagt. Ich mag Helena, so sehr ich es auch gerne verleugnen würde. Ganz sicher hätte ich für kaum jemanden sonst meine Hand so bereitwillig hingehalten wie für sie. Noch dazu habe ich es getan, weil ich ihre Träume akzeptiere und nicht möchte, dass sie unmöglich zu erreichen werden für sie. So etwas hat noch nie jemand bei mir erreicht, normalerweise sind mir die Wünsche andere Leute absolut egal. Selbst meine eigenen Wünsche wären mir nicht wichtig genug, um mir dafür einen Nagel in den Finger zu rammen. Etienne und Mika bauen seit einigen Minuten weiter am Floß, nur Helena steht seitdem unschlüssig in der Gegend herum. Sie wollte sich schon bei mir entschuldigen, als Etienne mich verarztet hat, doch ich habe sie weggeschickt. Während meiner Schmerzen hatte ich zu viel Angst, etwas zu sagen, dass ich nicht zurücknehmen könnte. Auch jetzt möchte ich eigentlich keine Entschuldigung von ihr haben und auch kein Dankeschön. Ich will lieber einfach schnell vergessen, dass ich mich für jemanden eingesetzt habe. Helena ist weder meine nächste Sommerliebelei noch jemand, den ich an mich heranlassen möchte, ich muss mich einfach von ihr fernhalten. Sie hat mir heute deutlich gezeigt, dass sie keinen Bock auf mich hat und damit hat sie mir eigentlich einen Gefallen getan. Ich spüre tatsächlich sogar etwas Wut auf sie in mir, weil ich nur ein Loch in der Hand habe, weil sie nicht auf ihre Hände aufpassen konnte. Ich verstehe nicht, woher ihre plötzliche Unbedachtheit kommt. Als ich sie für einen Moment ansehe, scheint sie mit sich selbst zu hadern, um dann doch in meine Richtung zu kommen. Sie stellt sich unschlüssig vor mich und mustert den Verband an meiner Hand. „Tut mir leid", murmelt sie und ich höre deutlich, dass sie sich schuldig fühlt. Wenigsten scheint mein Schmerz ihr nicht völlig egal zu sein, schon mal etwas. Ich zucke nur die Achseln und meine: „Schon gut." Ich werde vor ihr sicherlich nicht zeigen, dass das Brennen in meiner Hand mich fast umgebracht hat. Mittlerweile habe ich Schmerzmittel intus und es ist erträglich, wenn auch immer noch unangenehm. Helenas Blick fällt auf den Tisch und sie kratzt mit ihrer Hand an dem Holz herum. „Warum hast du es gemacht?", fragt sie leise und sieht mir in die Augen. Ich weiß nicht, was sie von mir erwartet, was ich ihr sage. Bestimmt werde ich nicht zugeben, dass ich sie zu gerne einmal spielen hören möchte und ihre Hände deshalb nicht verletzt sein dürfen. „Es war ein dummer Reflex", sage ich und erwidere ihren Blick möglichst abweisend. Ich will, dass sie versteht, dass wir keine Freunde sind und es auch nicht werden. Ich will niemanden in meinem Leben haben, für den ich mich selbst freiwillig verletze. Niemand soll mich so im Griff haben, ich will frei sein.

Helena scheint mir eindeutig nicht zu glauben, doch bevor sie etwas sagen kann, hören wir das Auto ankommen und wenig später Kyle und Liv mit den Einkäufen ins Haus poltern. Helenas Blick fällt auf meine Hand und sie scheint erst jetzt zu verstehen, dass ihr Bruder gleich vermutlich sauer auf sie sein wird. Obwohl ich glaube, dass Kyle eh nichts anderes von ihr erwartet, tut es mir irgendwie leid, dass sie so sehr nach seiner Anerkennung strebt. Ich seufze und meine: „Ich werde es ihm nicht erzählen." Verdutzt runzelt Helena die Stirn und eigentlich kann ich selbst auch nicht glauben, dass ich mich schon wieder für sie einsetzen möchte. Es ist jedoch zu spät als Kyle aus der Tür kommt und meine Hand sofort verblüfft mustert. „Was ist denn hier passiert?", fragt er und zieht eine Augenbraue hoch. Ich schnaube leicht und will ihm eine ausgedachte Geschichte auftischen, doch Helena kommt mir zuvor. „Ich habe ihr einen Nagel in die Hand gerammt, weil ich wie immer zu ungeschickt war", sagt sie und ich bin relativ überrascht über ihre Ehrlichkeit. Kyles Augen weiten sich und er sieht mich an: „Fuck, wie schlimm ist es?" Ich schmunzele nur und erwidere: „Dich könnte ich immer noch easy boxen." Lachend klopft er mir auf die Schulter und wirkt erleichtert, dann schaut er seine Schwester an und greift nach ihren Händen. Er betrachtet sie kurz von allen Seiten, schüttelt dann den Kopf und gibt ihr einen leichten Schlag gegen den Hinterkopf: „Bleib einmal in der Realität, Leni." Sie folgt ihm, während er zu Etienne und Mika läuft und versucht, sich auch bei ihm zu entschuldigen. Kyle ist es also genauso wenig egal, was mit Helenas Händen passiert, wer hätte es gedacht. So sehr er auch immer den Macker raushängen lässt, seine Schwester und ihre Träume sind ihm nicht egal.

Neben mir räuspert sich Liv und lässt mich damit zusammenzucken. Sie schaut auf meine Hand und dann in meine Augen und ihr Blick sagt mehr als tausend Worte. Sie wird die Unterhaltung mit angehört haben und genau wissen, dass ich mir für Helena den Nagel eingefangen habe, ohne darüber nachzudenken. „Du bist ein Idiot", meint sie und ich kann wohl schlecht etwas dagegen sagen. Jetzt kann ich ihr schlecht klar machen, dass Helena mir egal ist und ich sie langweilig finde. „Sei einfach vorsichtig, okay?", sagt sie auf wärmere Weise und ich nicke nachdenklich. Mein Blick fällt auf das blonde Mädchen, das mir seit Tagen den Kopf verdreht und ich muss daran denken, wie sie mich gestern abgewiesen hat. „Sie kann auf sich selbst aufpassen, du brauchst dir keine Sorgen machen", sage ich und es scheint Liv erstmal zufrieden zu stellen. Sie bringt mir etwas zu essen raus und packt dann die Einkäufe weiter aus. Ich stecke mir meine Kopfhörer in die Ohren und versuche einfach mal an nichts zu denken. Dieser Tag macht mich einfach nur fertig.

My hardest riseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt