Kapitel 1

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Manchmal vergisst Hilde Dinge.
Dann steht sie im Supermarkt und weiß überhaupt nicht mehr, weshalb sie hergekommen ist und was sich im Kühlschrank ihrer kleinen Wohnung befindet.
Oder sie nimmt das Telefon und will wie jeden Freitag Nachmittag ihre langjährige Freundin in Hamburg anrufen, aber plötzlich fällt ihr ihre Telefonnummer einfach nicht ein. Sie hatte immer ein gutes Zahlengedächtnis, damals in der Schule konnte sie die Primzahlen mit Abstand am weitesten aufsagen. Vor ein paar Wochen war ihr Sohn Johann zu Besuch. Es war ein schöner Nachmittag, sie hatte einen Apfelkuchen gebacken und sogar daran gedacht, Teewasser aufzusetzen und Johanns Lieblingstee einzukaufen. Sein Lächeln, als er das bemerkte brachte auch sie zum Lächeln und später scherzten sie zusammen über alte Geschichten. Ihr Lachen sprudelte aus ihren Körpern, perlte über ihre Lippen, erfüllte die Luft mit Leben und ließ Hildes Augen funkeln.
Doch kurz darauf begann ihr jüngster Sohn ihr Fragen über seine Schwester Christine und ihre neugeborene Tochter zu stellen und sie konnte sich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, die kleine Lea je gesehen zu haben, geschweige denn an Informationen über sie. Sie hatte ihr einziges Enkelkind vergessen und diese Erkenntnis vertrieb das Leben aus der Luft und ersetzte es durch betretenes Schweigen. Schließlich packte Johann seine Tasche, verabschiedete sich und ließ die schwere Wohnungstür hinter sich ins Schloss fallen.
Ein anderes Mal dachte sie an ihre jüdische Nachbarin zu Kriegszeiten, aber sie bekam ihren Namen nicht zu fassen, obwohl er ihr doch auf der Zunge lag. Nicht wichtig vielleicht, aber die alte Frau saß da, wühlte verzweifelt in ihren Gedanken und wischte frustriert die Tränen von ihrer Wange, als sie nicht fündig wurde.

Hildes KriegWo Geschichten leben. Entdecke jetzt