Kapitel 9

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Als Johann besorgt die Tür Hildes Wohnung öffnet, schlägt ihm eine widerlich riechende Luftwelle ins Gesicht. Er war viel zu lange nicht hier und am Telefon war sie immer wortkarger und merkwürdiger geworden, hatte den Anschein erweckt, er würde stören. Dabei tat sie doch nichts den ganzen Tag, außer fernsehen zu schauen, im Park spazieren zu gehen und sich mit irgendwelchen anderen alten Menschen zu treffen oder ewig zu telefonieren.
Da ertönt ein leises Wimmern aus dem Wohnzimmer und Johann rennt, stolpert über riesige Papierhaufen.
Er findet seine Mutter verkrümmt am Boden liegend, mit ausdruckslosen Augen an die Wand starrend. Seit ihrer letzten Begegnung ist sie noch viel dünner geworden und sieht jetzt aus wie ein Skelett. Fast hat er ein wenig Angst vor dem Wesen auf dem Fußboden, muss sich selbst erinnern, dass es seine geliebte Mutter ist.
Ihre Haut ist faltig und vertrocknet. Johann ruft einen Krankenwagen.
Hilde wird weiter atmen, aber Hilde die Soldatin ist tot.
Der Krieg ist verloren und die alte, erschöpfte Frau hat vergessen, dass sie vergisst.
Der Feind hat sie plötzlich rasend schnell eingeholt.

Sie hat vergessen, dass sie Soldatin ist.
Sie hat vergessen, dass sie Soldatin war.

Manchmal vergisst Hilde Dinge.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Apr 10, 2015 ⏰

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