Kapitel 6

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Es kommt vor, dass sie eine Schlacht gewinnt.
Sie besucht Christine an ihrem Geburtstag, Johann ist auch da.
Vor zwei Wochen hat Johann angerufen und erwähnt, Christine wäre neuerdings Vegetarierin. Hilde hat es sich aufgeschrieben, so wie sie sich mittlerweile alles aufschreibt, und sich überlegt, ihrer Tochter ein Kochbuch zu schenken. Sie hatte den Zettel an ihren Kalender gepinnt, einen auf 2 Tage vorher und einen auf heute, damit sie das Geschenk auch wirklich mitnahm. Ihr Plan ist aufgegangen und so ist sie am Donnerstag losgezogen und hat in der Buchhandlung ein vegetarisches Kochbuch gekauft. Zur Sicherheit hatte sie den Zettel mitgenommen, damit sie nicht vergaß, was genau sie dort kaufen sollte, aber der war gar nicht nötig, genauso wenig wie der heute. Das hübsch eingepackte Geschenk in ihrer Tasche wartet sie jetzt am Straßenhand auf ihren Sohn, der versprochen hatte, sie mitzunehmen.
Bei Christine angekommen überreichen sie die Geschenke und die freudig überraschten Blicke ihrer Kinder bedeuten pures Glück für Hilde.
Sie essen gemeinsam und die alte Frau verspürt das erste Mal seit langem wieder Appetit. Johann hat sie auf dem Hinweg besorgt auf ihren Gewichtsverlust angesprochen, aber sie hat es auf ihre Schilddrüse geschoben und damit war das Thema wieder beendet.
Diesmal vergisst sie nichts, lebhaft nimmt sie am Gespräch teil und spielt nach dem Essen mit ihrer Enkelin.
Christine und Johann werfen sich erstaunte Blicke zu. Eigentlich hatten sie beschlossen, Hilde heute von der Unterbringung in einem Altenheim zu überzeugen, aber angesichts dieses schönen Abends schieben sie diesen Gedanken weit fort, ganz wohl ist ihnen nämlich nicht bei der Vorstellung, ihre Mutter in einem Altenheim zu wissen. Stattdessen nehmen sie sich vor, sie öfter zu besuchen, aber wie die meisten Vorsätze verpufft auch dieser ebenso schnell wieder, wie er einem in den Sinn gekommen ist. Und das ist auch gut so, denn ein Altersheim wäre für Hilde ein Synonym für Niederlage und kein geeigneter Ort, sich für den Kampf zu wappnen. Soldatinnen gehören nicht in Altersheime.
Auf dem Rückweg ist Hilde erschöpft und würde am liebsten in ihren Manteltaschen nach Erinnerungen suchen, sie auf dem Papier in der Hand halten und die Gewissheit haben, dass sie sie nicht verlassen werden. Aber sie reißt sich zusammen, lächelt über Johanns Worte und wartet, bis sie wieder in ihrer Wohnung ist. Eigentlich wollte ihr Sohn noch auf einen Kaffee mit hoch kommen, aber sie hat abgewehrt, sie wäre zu müde. Schon lange war niemand mehr bei ihr gewesen und das ist gut so, denn ihr Schlachtfeld soll niemand zu Gesicht bekommen.
Als sie die Tür hinter sich schließt, fällt eine ungeheure Anspannung von ihr ab. Sie hat es wirklich geschafft, Hilde hat gesiegt. Heute.
Glücklich, aber ausgezehrt legt sie sich in der Mitte des Wohnzimmers auf den Boden. Sie ist wieder zuhause. Tief atmet sie ein und aus, betrachtet all die Erinnerungen um sich herum, breitet die Arme aus und hofft, sie alle einatmen zu können, sodass sie überhaupt keine Zettel mehr braucht, um nichts zu vergessen.
Dann verfasst sie eilig den heutigen Tag in Worte, so angsterfüllt ist sie, dieser schöne Tag könne ihr sofort wieder entrissen werden.
Vielleicht führt Hilde nur Krieg, weil sie Angst hat.
Vielleicht greift der Mensch nur an, wenn er Angst hat.

Hildes KriegWo Geschichten leben. Entdecke jetzt