Am nächsten Tag wird sie vom Klingeln an der Tür aus dem Schlaf gerissen. Es ist der Elektriker, der gekommen ist, um die Heizung zu reparieren. Hilde ist ärgerlich, sie hätte es aufschreiben sollen, denkt sie frustriert als sie die Tür entriegelt. Der Elektriker betritt die Wohnung der grimmig blickenden Alten und traut seinen Augen nicht. Er muss sie für völlig verrückt halten, die Wände sind vollständig mit in winziger, unleserlicher Schrift bekritzelten Seiten beklebt und auch auf dem Fußboden fliegen sie überall herum, stapeln sich auf Möbelstücken. Es liegen dicke Ordner herum, prall gefüllt mit weiteren dieser merkwürdigen Papiere, Fotos, Broschüren und Zeitungsartikeln.
Der Mann rümpft die Nase, ein staubiger Geruch liegt in der Luft und als er sich weiter umsieht, erkennt er den Grund dafür. Hier hat schon ewig keiner mehr geputzt, Spinnennetze und riesige Staubflocken sammeln sich in allen Ecken und Nischen, als würden sie darauf warten, angreifen und alles verschlucken zu können. Auf dem Tisch steht ein Teller mit belegtem Brot, von dem niemand gekostet hat, abgesehen vom Schimmel vielleicht. Nur eine flackernde Lampe über dem Tisch sorgt für Licht, alle Vorhänge und Fenster sind geschlossen. Trocken hustet der Elektriker, es ist stickig hier. Er beeilt sich mit seiner Arbeit und verschwindet dann wieder. Die auf dem Boden hockende Frau sieht nicht einmal auf, als er sich verabschiedet, schreibt einfach weiter wie besessen in ein rotes Notizbuch.
Dann ist das Kratzen des Bleistiftstummels auf dem Papier wieder das einzige Geräusch in der Wohnung, aber Hilde wiegt sich im Takt ihrer Erinnerung an ihr Lieblingslied vor fünfundvierzig Jahren, denkt an das großartige Konzert. Damals, als sie noch unverletzbar war.
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Hildes Krieg
General FictionManchmal vergisst Hilde Dinge. Vielleicht haltet ihr sie für verrückt, aber das ist sie nicht. Hilde führt Krieg.