Hildes Krieg

Kapitel 2

Hilde beschließt Krieg zu führen. Ein kleiner Krieg gegen ihre verblassende Erinnerung, der ihr überhaupt nicht klein vorkommt, sondern überwältigend groß.
Das Heer ihres Gegners ist in endlos langen wie breiten Reihen aufgestellt und umzingelt sie, alle Waffen auf ihren Kopf gerichtet. Hilde fühlt sich klein und hilflos, aber noch ist sie auch unsterblich. Die Lanzen und Kugeln des Feindes hinterlassen Löcher und Wunden in ihrem Fleisch und ihr gesamter Körper schmerzt, doch sie bleibt stehen und beginnt, sich Schutzschilder zu bauen.
Stundenlang sitzt sie an ihrem schäbigen Küchentisch und schreibt sich die Finger wund.
Alles was ihr einfällt schreibt sie auf und das ist um einiges mehr, als ihr Gegner erwartet hat. Sie schreibt und schreibt und langsam füllen sich unzählige Hefte, Blöcke und lose Zettel. Mitten in der Nacht wacht sie auf, knipst das Nachtlicht neben sich an und beginnt alles auf das Papier zu kritzeln, dass ihr in den Sinn kommt, Daten, Namen, Nummern, all die Erinnerungen, die sie nie verlieren will. Die Augenfarbe ihres verstorbenen Mannes, die Namen ihrer Lieblingsbücher inklusive kurzer Inhaltsangabe, das erste Wort ihrer Kinder, die Geschichte, wie sie Bernd damals kennen lernte und so viel mehr. An die Zettel heftet sie die Fotos, die sie aus den Alben in ihrem Wohnzimmerschrank gerissen oder aus staubigen Kisten im Keller gezogen hat. Die Zettel, die ihr wichtig erscheinen, klebt sie an die Wände und schon bald lebt sie nicht mehr in ihrer einsamen Wohnung, sondern nur noch in ihrer Erinnerung. Sie steht vor ihrer Wand und der vierjährige Johann grinst sie an, seinen ersten Milchzahn stolz in der Hand. In der Küche blickt sie sich selbst in die Augen, ein Foto vom Tag ihres Schulabschlusses. Wenn sie sich an etwas nicht genau genug erinnert, forscht sie nach, telefoniert mit alten Bekannten, schreibt Briefe an alle möglichen Menschen, die ihr in ihrem Leben begegnet sind und mischt deren Gedanken mit ihren.