Alle Wände sind voll, von oben bis unten, aber Hilde ist noch nicht fertig. In einem Laden ersteht sie eine Weltkarte und befestigt sie an der Decke über ihrem Bett. Die kleine, schmächtige Frau nimmt sich einen schwarzen Stift, zerrt die Leiter in ihr Schlafzimmer, erklimmt entschlossen die Stufen und markiert nach und nach alle Orte auf der Karte, die sie in ihren siebenundsiebzig Lebensjahren besucht hat. Währenddessen steht sie nicht mehr auf der Leiter, sondern fährt mit dem klapprigen Wohnwagen, den Bernd damals einem Freund abkaufte, die Mittelmeerküste entlang, Kinderstimmen im Ohr. Salziger Wind kitzelt ihren Nacken und Hilde sammelt Muscheln und Bernstein am Strand in Dänemark. Die alte Frau ist wieder jung, sieht sich in ihrer ersten eigenen Wohnung in Hannover und auf ihrer Hochzeitsreise in Griechenland. Fast spürt sie die Sonne auf ihrer blassen Haut und hört die Straßenmusik, die damals die belebten Gassen ausfüllte und jetzt ihre stille Wohnung.
Zufrieden steigt sie irgendwann wieder von der Leiter, zu erschöpft um diese noch wegzuräumen legt sie sich ins Bett, schreibt mit zittriger Hand Urlaubserinnerungen in das Heft, das sie immer noch in der Hand hält, als sie in einen tiefen Schlaf gleitet.
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Hildes Krieg
General FictionManchmal vergisst Hilde Dinge. Vielleicht haltet ihr sie für verrückt, aber das ist sie nicht. Hilde führt Krieg.